Harald Schneider
BUCHBESPRECHUNG ZU BERNHARD ALTERMATT: «SPRACHE UND POLITIK – ZWEISPRACHIGKEIT UND GESCHICHTE»
Bernhard Altermatt, Sprache und Politik – Zweisprachigkeit und Geschichte. Die Schweiz als mehrsprachiger Bundesstaat und der zweisprachige Kanton Freiburg vom 19. ins 21. Jahrhundert (mit zwei Foto-Reportagen entlang der Sprachgrenze von Nadine Andrey und Pierre-Yves Massot). Freiburg: Kultur Natur Deutschfreiburg, 2018, 375 Seiten.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert mit jeweils vier (Teil I), fünf (Teil II) bzw. vier (Teil III) Unterkapiteln, mit einem Vorwort von F. S. Stulz und einem Nachwort von M. Meune.
Teil I: Sprachenpolitik im mehrsprachigen Bundesstaat
Der Sprachfrieden als ambivalenter Begriff und bremsender Faktor in der schweizerischen Sprachenpolitik
Die fünf Hauptpfeiler der schweizerischen Sprachenpolitik: Föderalistischer Staatsaufbau, Symbolische Anerkennung, Proportionale Vertretung, Minderheitenschutz, Verständigungsförderung
Der Mythos der «Germanisierung» und seine Auswirkungen im westschweizerischen Sprachgrenzgebiet
Unterrichtssprache und Minderheitenschutz im Schulwesen der Schweiz und Belgiens
Teil II: Umgang mit Sprache und Zweisprachigkeit im Kanton Freiburg
Von sprachlicher Diskriminierung über den Sprachparallelismus zur Förderung der Zweisprachigkeit
Die Wirkung des sprachlichen Territorialitätsprinzips in zweisprachigen Gebieten
Die institutionelle Zweisprachigkeit in der Kantonshauptstadt Fribourg-Freiburg
Sprachenpolitik und Sprachenrecht im Übergang vom «Ancien Regime» zum modernen Bundesstaat
Engagement und Mobilisierung einer sprachpolitischen Lobby-Organisation im 20. Jahrhundert
Teil III: Zweisprachigkeit und Partnersprache(n) im Bildungswesen
Schule und Bildung als zentrale Politikfelder in zweisprachigen Gemeinschaften
Die Integration von sprachlichen und konfessionellen Minderheiten als gesellschafts- und staatspolitische Aufgabe
Der landwirtschaftliche Unterricht als Grundbedürfnis im ruralen Gebiet und als Herausforderung im zweisprachigen Kanton
Die 1960er und 1970er Jahre als Schlüsselperiode für eine bessere Berücksichtigung der Sprachenvielfalt in der Schulorganisation
Ergänzt wird das Buch durch eine Bibliographie sowie durch ein Register der Orts- bzw. Personennamen sowie zahlreichen Abbildungen, Diagrammen (ohne Verzeichnis) und einer Fotoreportage.
In seinem «Geleit und Dank» macht der Autor B. Altermatt den Anspruch der Publikation schon eingangs deutlich: Eine mehrsprachige Reise durch die Schweiz, Europa und darüber hinaus. Kann das vorliegende Buch an der Schnittstelle Geschichte/Politik bzw. Sprache/Kultur die Erwartungen erfüllen? Die nachfolgende Buchbesprechung möchte die Antwort darauf geben.
Der Untertitel des Buches mit dem Haupttitel «Sprache und Politik – Zweisprachigkeit und Geschichte» lautet «Die Schweiz als mehrsprachiger Bundesstaat und der zweisprachige Kanton Freiburg vom 19. ins 21. Jahrhundert». Der methodische Ansatz des vorliegenden Buches zielt allerdings eher in die entgegengesetzte Richtung: Der Kanton Freiburg als Paradigma für Zwei-(Mehr) Sprachigkeit der Schweiz.
Im avisierten Vergleich mit weiteren Sprachregionen («darüber hinaus») wird die kanadische Provinz Ontario etwas optimistisch als zweisprachig bezeichnet. Wirklich zweisprachig sind jedoch lediglich 10% der Bevölkerung; 4% geben Französisch als L1 (Erstsprache) an (vgl. www.lexas.de).
Der Untertitel des ersten Teils «Sprachenpolitik im mehrsprachigen Bundesstaat» lautet «Der Sprachfrieden als ambivalenter Begriff und bremsender Faktor in der schweizerischen Sprachenpolitik». Die zentralen Themen sind Sprachfrieden und Minderheitenschutz sowie die Problematik des Fremdsprachenunterrichts in der Schule bzw. deren Verträglichkeit mit den Schweizer Landessprachen und der angeblich «nicht erwiesenen» ökonomischen Notwendigkeit von Englisch (S. 32). Altermatt konstatiert, dass die Schweizer Sprachenpolitik aufgrund ihrer föderalen bzw. direktdemokratischen Ausrichtung träge operiert. Des Weiteren fragt der Autor berechtigterweise, ob man den Sprachfrieden nur auf Kosten von Minderheitenschutz erhalten wolle. In diesem Zusammenhang beklagt Altermatt besonders das Fehlen bzw. die Nichtbereitschaft zur Umsetzung von Immersionsmodellen in Schule und Unterricht.
Untertitel 2 von Teil I umreisst die fünf Hauptpfeiler der Schweizer Sprachenpolitik (Föderalismus, symbolische Anerkennung, Proporz, Minderheitenschutz, Verständigungsförderung). In diesem Kontext wird insbesondere der Kanton Graubünden mehrfach erwähnt: Förderung der sprachlichen und kulturellen Eigenheit von Rätoromanisch bzw. Italienisch. Altermatt merkt jedoch kritisch an, dass vor allem für Rätoromanisch bzw. Rumantsch Grischun sämtliche Massnahmen bereits zu spät gesetzt worden sein könnten, da sie erst seit knapp 20 Jahren die entsprechende (politische) Anerkennung bzw. Wertschätzung finden würden (S. 48). Ein an der Pädagogischen Hochschule Graubünden lanciertes Projekt -- Sonderprofessur Mehrsprachigkeit -- zur Förderung der kantonalen Landessprachen Romanisch und Italienisch findet im «Studienplan 22» dabei keine Berücksichtigung mehr. Bildungspolitisch begründet wird dies mit dem Umstand, dass Mehrsprachigkeit per se kein universitätskonformes Studium darstelle. An die Stelle von Mehrsprachigkeit treten nun neu die Regel-Studienfächer «Italienisch» bzw. «Romanisch».
Als vorrangiges «Problem» in Graubünden ortet Altermatt den Fremdsprachenunterricht in der (Primar-) Schule unter der Auflage «eine Landessprache als erste L2 bei gleichzeitiger Vorverlegung von Englisch». Wie diese brisante sprachpolitische Frage für Rätoromanisch in Graubünden gelöst werden soll, bleibt jedoch weiterhin unklar.
Aufschluss darüber könnte der Vergleich der beiden Länder Schweiz und Belgien geben, den Altermatt in Unterkapitel 4 von Teil I behandelt. Einschränkend ist, wie Altermatt selbst betont, ein sprachpolitischer Vergleich nur bedingt zulässig, da Belgien, obgleich offiziell dreisprachig, nicht wie die Schweiz föderalistisch, sondern zentralistisch geprägt ist. Das prozentuale Verhältnis der Landessprachen ist ebenfalls anders: Die Mehrheit Belgiens (ca. 60%) ist frankophon, die Minderheit (ca. 40%) spricht Niederländisch (Flämisch) und eine verschwindende Minderheit (1%) ist deutschsprachig.
Im Unterkapitel 3 von Teil I steht der «Germanisierungsmythos» in besagtem Grenzgebiet der Westschweiz im Vordergrund. Altermatt entkräftet diesen Mythos mit, aus seiner Sicht, falschen Statistiken und subjektiver Wahrnehmung frankophoner Sprachpuristen. In Wahrheit, so Altermatt, sei die Sprachgrenzregion, demographisch stabil, ein Germanisierungsprozess somit sprachpolitisch inexistent (S. 55-57).
Einen solchen Prozess [der Germanisierung] sieht der Autor allerdings für den rätoromanischen Sprachraum in Graubünden. Auch für den frankophonen Teil Freiburgs konzediert Altermatt eine gewisse Germanisierung wirtschaftlicher Dominanz – insbesondere aus den Regionen Basel und Bern.
Dennoch befindet Altermatt, liege die Germanisierungsfurcht der Frankophonen in der Bilinguisierung des öffentlich-rechtlichen Bereiches begründet, denn Zweisprachigkeit [so die frankophone Sicht] komme immer der Minderheitensprache, im vorliegenden Freiburger Fall der Germanisierung entgegen. Auch die immer stärkere Präsenz von Englisch begünstige diese Entwicklung.
Im Bildungsbereich blieben die Vorwürfe der Germanisierung sowohl im Schul- als auch im Universitätsbetrieb zunächst (bis in die 1970er Jahre) bestehen. Altermatt beklagt in diesem Zusammenhang besonders die Ablehnung des Immersionsunterrichts im Rahmen des Referendums in Freiburg (21. Sept. 2000), wenngleich mit knapper Mehrheit von 50,4% (S. 64).
Damit – so Altermatt – findet die Germanisierungsangst ihre Fortsetzung. Ein weiterer Erklärungsversuch des Autors ist historisch begründet: Für die Frankophonen beginnt die Zeitrechnung offenkundig bereits mit dem Beitritt des Kantons Freiburg zur Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert, als Deutsch die vorherrschende (Amts-)Sprache war. Die frankophone Sichtweise der Sprachgrenze ist puristisch und klar: eine deutliche Trennlinie. Die Deutschsprachigen hingegen sehen einen fliessenden Übergang der Sprachgruppen (S. 66).
Auch die Entscheidung für Englisch (als erste Fremdsprache – L2) in zahlreichen Kantonen der Deutschschweiz sei in Wahrheit gegen die Frankophonie gerichtet.
Das Thema von Unterkapitel 4 von Teil I – Unterrichtssprache und Minderheitenschutz im Schulwesen der Schweiz und Belgiens – leitet sich historisch aus den nationalstaatlichen Interessen zahlreicher europäischer Länder im 19./20. Jahrhundert ab. Für Altermatt stellen die «scheinbar harmonisch funktionierende Schweiz» und das «konfliktbeladene und vom Sprachenstreit gekennzeichnete Belgien» eine interessante Vergleichsperspektive dar. Das Bildungssystem der beiden Länder scheint für Altermatt ein repräsentativer Parameter zu sein. Dabei konzentriert sich die Betrachtung auf die L1 – also die Erst- bzw. Unterrichtssprache; den gleichermassen interessanten Aspekt des L2 Unterrichts (Fremdsprachen) lässt Altermatt unkommentiert.
Die Sprachensituation in der Schweiz mit 22 einsprachigen und drei zwei- (FR, VS, BE) bzw. einem dreisprachigen Kanton (GR) ist bekannt. Belgien dagegen weist fünf einsprachige Teilregionen auf, wovon nur eine, die Hauptstadtregion Brüssel, zweisprachig ist. Die weiteren Regionen sind Flandern (Flämisch), Wallonien (Französisch), die deutschsprachige Gemeinschaft im Osten des Landes an der Grenze zu Deutschland (Deutsch) sowie die sog. «Faszilitäten-Gemeinden», entlang der innerbelgischen flämisch-französischen Sprachgrenze.
Es liegt in der Natur der föderalen Struktur der Schweiz, dass, wie im Fall des Bildungssektors, die Kompetenz in den Händen der Kantone liegt. Der föderale Flickenteppich geht sogar so weit, dass in den sprachlich gemischten Kantonen FR, BE, VS und GR die Wahl der Unterrichtssprache im Primar- bzw. Sekundarbereich den Gemeinden überlassen wird. Beim Vergleich der Bildungssysteme kommt Altermatt zum Schluss, dass das sprachliche Territorialitätsprinzip, welches beiden Ländern zu eigen ist, die lokalen Minderheiten in Sprachgrenzregionen nicht zu schützen vermag, da Gemeinschaften nur dort geschützt würden, wo eine Mehrheit vorherrscht.
Abschliessend hält Altermatt fest, dass besagtes Territorialitätsprinzip dem Postulat der Mehrsprachigkeit zuwiderläuft.