Zur regionalen Markierung des Alemannischen der rätoromanischen Bevölkerung am Beispiel des Vibranten /r/

Thesen

  • Durch das Vorkommen von regionalen sprachlichen Merkmalen – in diesem Fall durch die Artikulation des Vibranten r – kann die Herkunft von Sprecherinnen und Sprechern identifiziert werden, bzw. die Hörerinnen und Hörer glauben, deren Herkunft dadurch bestimmen zu können.

  • Der Vibrant, wie er im Alemannischen der rätoromanischen Bevölkerung gesprochen wird (uvulare Variante), wird im Laiendiskurs erwähnt und ist deshalb ein salientes sprachliches Merkmal mit Potential zum Stereotypen.

  • Da die unterschiedlichen Realisierungen des Konsonanten schwer fassbar sind, wird das Merkmal im Diskurs sprachlich umschrieben.

 

Der Beitrag greift ein regionales sprachliches Merkmal, das im bündnerischen Sprachraum vorkommt, auf – die Artikulation des Vibranten r – und geht der Frage nach, ob dieses im Laiendiskurs als auffällig beschrieben wird. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass einige Sprecherinnen und Sprecher aus Disentis und Trun den Vibranten uvular bzw. teilweise kaum hörbar oder ganz verstummt sprechen. Gesamtschweizerisch lässt sich feststellen, dass diese Variante nicht der Norm entspricht und im Hörerurteil bewertet werden könnte (vgl. Werlen 1980).

Aufgrund dieser Beobachtungen wurde das Datenmaterial von zwei laienlinguistischen Studien – d.h. es steht im Zentrum, was nicht linguistisch ausgebildete Personen über Sprache denken – nach empirischen Belegen durchsucht, die sich auf die Artikulation des Vibranten beziehen: Wird das Merkmal tatsächlich als auffällig wahrgenommen, sowohl nach Anhören eines auditiven Stimulus als auch bei Betrachtung eines visuellen Stimulus? Und, wenn ja, was kommunizieren die Informanten und Informantinnen aus Chur und dem Churer Rheintal zu diesem sprachlichen Merkmal? Auf welche Art wird das Merkmal beschrieben und wird es auch sozial oder affektiv bewertet?

Nach einleitenden Bemerkungen zur Verknüpfung von Sprache und Raum (1) bietet der Artikel zuerst einen kurzen theoretischen Einblick in die Konzepte der Laienlinguistik (2) sowie einen knappen Forschungsüberblick zum r im Schweizerdeutschen und in Graubünden. Im darauffolgenden Kapitel (4) werden das Untersuchungsgebiet und die Methoden beschrieben, danach werden die Ergebnisse präsentiert (5). Das letzte Kapitel vergleicht die Ergebnisse der beiden Studien und zieht ein Resümee (6).

erstmals publiziert am 01.01.2021 auf pluriling-gr.ch.

Noemi Adam-Graf

ZUR REGIONALEN MARKIERUNG DES ALEMANNISCHEN DER RÄTOROMANISCHEN BEVÖLKERUNG AM BEISPIEL DES VIBRANTEN /R/

Der Artikel ist in gedruckter Form in romanischer Sprache (Übersetzung: Dumenic Andry) erschienen.

https://www.drg.ch/annalas-133_de

  

1. Einleitung 

Sprache ist seit jeher mit dem Raum verknüpft: Die räumliche Bindung von Sprache sowie die areale Distribution von dialektalen Merkmalen wird sowohl von Laien als auch von Experten als gegeben betrachtet. Die sprachliche Vielfalt im Kanton Graubünden ist eng mit dem Raum verbunden, da sich das Vorhandensein der drei Kantonssprachen sowie germanischen und romanischen Regionaldialekten auf verhältnismässig kleinem Raum aus den naturräumlichen Gegebenheiten erklären lässt und sich die Sprachgrenzen aufgrund der topografischen Struktur herausgebildet haben.

Die rätoromanischen Regionaldialekte stehen in engem Kontakt mit der alemannischen Varietät des Churerrheintalischen. Die beiden Varietäten repräsentieren dabei heute nicht geografische Sprachgrenzen, sondern sie «greifen zackenartig ineinander und haben hinter den ‘Grenzlinien’ jeweils kleinere oder grössere Ableger als Minderheitsgruppen im Mehrsprachengebiet» (Willi / Solèr 1990: 455). Im traditionell romanischsprachigen Teil Graubündens kann von einer faktischen Zweisprachigkeit ausgegangen werden, die zumeist lediglich in einer Richtung besteht: Die Bewohnerinnen und Bewohner Graubündens, die Deutsch sprechen, lernen das Rätoromanische nur in wenigen Fällen, diejenigen mit rätoromanischer Muttersprache hingegen lernen das Deutsche in der Schule als Zweitsprache, teilweise auch schon früher (vgl. Willi / Solèr 1990: 457). Bei den Romanischsprechenden kann also von einem funktionalen Bilingualismus gesprochen werden (vgl. Solèr 1998: 150): Sie können sich in beiden Sprachen ausdrücken und wählen die Sprache je nachdem, wer ihnen gegenübersitzt.

Die räumliche Nähe von Chur und dem Churer Rheintal zur Surselva führt bei den meisten Bewohnerinnen und Bewohner zu einer (zumeist mündlichen) Interaktion. Während die rein deutschsprachige Bevölkerung ihre churerrheintalische Mundart verwendet, gebrauchen die Rätoromanen einen alemannischen Dialekt, der der churerrheintalischen Mundart sehr ähnlich ist.[1] Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der Frage, ob bzw. wie die sprachliche Variation dieser beiden sich ähnelnden Mundarten von der rein deutschsprachigen Bevölkerung aus Chur und Umgebung wahrgenommen wird.

Ein sprachliches Merkmal der schweizerdeutschen Mundarten, das von einer starken Variation geprägt ist, ist die Artikulation des Vibranten /r/. Die nicht-apikalen Varianten (vgl. Kap. 3) erscheinen dabei als auffällig und könn(t)en im Hörerurteil bewertet werden (vgl. Werlen 1980: 57). Bei eigenen Beobachtungen wurde im Kontakt mit Informantinnen und Informanten aus Trun und Disentis festgestellt, dass diese fast ausschliesslich die uvulare Variante (vgl. Kap. 3) verwenden. In Bezug auf die vermutete Verknüpfung von Sprache (vorhandenes Merkmal: uvular artikuliertes /r/) und Raum (Herkunft der Sprecherinnen und Sprecher: traditionell romanischsprachiges Gebiet Surselva) wird untersucht, wie bzw. ob der rätoromanische Hintergrund der Sprecherinnen aus dem traditionell romanischsprachigen Gebiet erkannt wird (Perzeption, vgl. Kap. 2.2) beziehungsweise wie die Hörerinnen und Hörer glauben, das Alemannische der rätoromanischen Bevölkerung erkennen zu können (Konzeptualisierungen, vgl. Kap. 2.2). Es soll geprüft werden, ob die uvulare Realisation des Vibranten für die rein deutschsprachig aufgewachsenen Informantinnen und Informanten aus Chur und dem Churer Rheintal ein auffälliges, d.h. salientes Merkmal [2] mit Potential zum Stereotypen (vgl. Eckhardt 2021: 282–284) ist und durch dessen Vorkommen die Herkunft der Sprecherinnen und Sprecher identifiziert werden kann. Da die unterschiedlichen Realisierungen des /r/ schriftlich schwer fassbar sind (vgl. Lenz 2010: 103), werden andere sprachliche Mittel verwendet, um das Merkmal zu beschreiben, was sich bei unterschiedlichen Stimuli nachweisen lässt.

Das, was die Menschen über Sprache denken, wurde in der internationalen Forschung lange vernachlässigt. Das Potential, Meinungen von linguistischen Laien bei soziolinguistischen Fragestellungen zu untersuchen, wurde von Dennis Preston in den 80er-Jahren erkannt und er erarbeitete daraufhin einen Methodenkatalog, welcher bis heute für die Fragestellungen der «Perceptual Dialectology» wegweisend ist (vgl. Hundt et al. 2017: 1). Während in der traditionellen Sprachwissenschaft Sprachdaten objektiv klassifiziert werden, sollen in der Laienlinguistik auch subjektive Wissensbestände und Vorstellungen von nicht linguistisch ausgebildeten Menschen in die Analyse miteinbezogen werden, damit ein vollständiges Verständnis von Sprache erhalten werden kann (vgl. Preston 2010: 3, Stoeckle 2014: 11–12).[3]

Mein Artikel vergleicht zwei Studien der Laienlinguistik und untersucht das Datenmaterial nach subjektiven Wissensbeständen, die sich auf das lautliche Merkmal r beziehen. Kapitel 2 erläutert die Termini «Metasprache», «Perzepte» und «Konzeptualisierungen». Das dritte Kapitel beschreibt die Varianten des Vibranten im Schweizerdeutschen, danach wird das Untersuchungsdesign der Studien beschrieben (4). Kapitel 5 stellt die Ergebnisse dar, im letzten Kapitel (6) wird ein Resümee gezogen.

2. Begriffsklärungen 

2.1. Metasprache

Der Terminus «Metasprache» kann als «language about language» [4] definiert werden: Inhalte über Sprache werden perzipiert, d.h. wahrgenommen oder assoziiert, d.h. mit anderen Inhalten verknüpft und gedanklich verbunden und, je nach Untersuchungsdesign, direkt im Anschluss metakommuniziert.

Preston (1998: 85ff.) [5] unterscheidet drei Typen von Metasprache. Mit «Metasprache 1» werden offene Kommentare zu Sprache bezeichnet, die bewusstausgedrückt werden. Darunter fallen ästhetische und affektive Sprachurteile oder das Abrufen von sprachlichen Stereotypen (vgl. Cuonz 2014: 17, Stoeckle 2014: 14–15). «Metasprache 2» umfasst Äusserungen, die unbewusst und automatisch kommuniziert werden. Die Inhalte können sich auf Sprache beziehen, haben diese aber nicht explizit zum Thema (vgl. Cuonz 2014: 18); Sympathien oder Antipathien gegenüber anderen Sprechergruppen, die kommuniziert werden, müssen beispielsweise nicht zwingend auf die Sprache zurückgeführt werden (vgl. Stoeckle 2014: 14–15). «Metasprache 3» umfasst die Erklärungsebene, d.h. diesen indirekt geäusserten Inhalten unterliegen die Kommentare des Typs 1 (vgl. Cuonz 2014: 18).[6]

Der metalinguistische Diskurs ist ein wichtiges Element in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, denn darin widerspiegelt sich die aktuelle Sprachsituation. Metalinguistische Daten können weiter «zum Verständnis beitragen, wie soziale Gruppen Sprachen und Kommunikation allgemein bewerten und einschätzen» (Cuonz 2014: 19). Es wird davon ausgegangen, dass Sprache «durch die Debatte über sie verändert [wird]» und dass «die metalinguistische Praxis Einfluss auf unser Denken und unsere Handlungen hat» (Cuonz 2014: 19).

2.2. Perzepte und Konzeptualisierungen 

Reaktionen auf und Kommentare zu Sprache können auf einem Kontinuum zwischen bewussten und unbewussten Wissensbeständen eingeordnet werden. Methodisch bedeutet dies, dass zwei Arten von Produktionsquellen bestehen, um Wissensbestände zu erfragen: Eine interne, d.h. die Sprachteilnehmerinnen und -teilnehmer äussern Wissensbestände von sich aus, und eine externe, d.h. Wissensbestände werden in Bezug auf einen äusseren Stimulus erwähnt (vgl. Stoeckle 2014: 18; Preston 2010: 6).[7]

In den hier dargestellten Studien werden bewusste Reaktionen und Kommentare zu Sprache erfragt. Studie 1 aktiviert den externen Modus: Den Probandinnen und Probanden werden Sprachaufnahmen vorgespielt und diese Aufnahmen werden kommentiert. Diese Herangehensweise offenbart «Perzepte» (percepts), das sind «sprachliche Merkmale, die Menschen bei sich selbst oder bei anderen SprecherInnen wahrnehmen und die sie potentiell der Konstruktion von mentalen Modellen zuführen können» (Berthele 2010: 245). Studie 2 aktiviert den internen Modus: Die Probandinnen und Probanden werden «direkt nach Konzepten und Vorstellungen von Sprache» gefragt (vgl. Stoeckle 2014: 23). Man spricht dabei von «Konzeptualisierungen» (concepts), dies sind «metonymische, metaphorische und propositionale kognitive Strukturen», also «Kategorisierungen von Elementen der realen oder vorgestellten Welt» (Berthele 2010: 245).

3. Das /r/ im Schweizerdeutschen und in Graubünden

Im Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) sind fünf Varianten des Phonems /r/ belegt: zwei Vibranten und drei Frikative (vgl. Werlen 1980: 52).[8] Die zwei Vibranten sind das alveolar artikulierte [r], die apikale Variante, sowie die mit dem Zäpfchen artikulierte, uvulare Variante [ʀ]; die Varianten der Frikative sind stimmhaft (dorsales [ɹ], uvulares[⁠ʁ⁠]) oder stimmlos (velares [⁠χ⁠]).[9] Es ist davon auszugehen, dass der apikale Vibrant die «gewöhnliche, normale Variante des /r/» (Werlen 1980: 52) darstellt, da diese in weiten Teilen der Schweiz vorkommt. Die nicht-apikalen Varianten sind stärker markiert und können mit einer negativen Bewertung einhergehen (vgl. Werlen 1980: 57).

Im Kanton Graubünden wird das /r/, nebst einigen Einzelfällen, generell apikal realisiert, die uvulare Variante kann bei Sprecherinnen und Sprechern aus dem traditionell rätoromanischen Gebiet beobachtet werden. Oscar Eckhardt (2021: 282-284) der sich in seinem Projekt mit der systematischen Beschreibung des Sprachsystems des Alemannischen der Rumantschia («Objektsprache») befasst, stellt fest, dass für die Rumantschia bis anhin keine Studien vorliegen, die die Verbreitung oder phonetische Beschreibung des Lautes darstellen. Nach eigenen Recherchen kommt Eckhardt (2021: 283) zu folgendem Schluss:

Wahrscheinlich ist die uvulare Lautung nicht eine Spezialität eines bestimmten Dorfes, sie ist vielmehr in der oberen Cadi verbreitet, also von Tujetsch/Medel bis und mit Brigels. Aufgrund dieser Aussagen liegt unser Untersuchungsort Trun im Gebiet mit uvularer Realisierung, während Ilanz/Glion und Trin ausserhalb dieses Gebietes liegen.

Zehn der elf von Eckhardt aufgenommenen Informanten aus Trun sprechen das r uvular. Es lässt sich beobachten, dass einige der Sprecher zwischen der uvularen und frikativen Variante schwanken, «bisweilen ist in Trun das r kaum hörbar oder es verstummt ganz» (vgl. Eckhardt 2021: 282-284). Im Folgenden wird versucht, das noch wenig untersuchte Phänomen aus einer subjektsprachlichen Perspektive zu beleuchten.

4. Untersuchungsgebiet und Methode

4.1. Kontextualisierung der Untersuchungen

Das Datenmaterial stammt aus zwei Studien. Die erste Untersuchung, eine Perzeptionsstudie (Studie 1), wurde im Rahmen meiner Masterarbeit durchgeführt. Die mentalen Raumbilder und kognitiven Strukturen der Bewohnerinnen und Bewohner Graubündens (Studie 2) werden in meiner zur Zeit laufenden Dissertation, die vom Institut für Kulturforschung Graubünden gefördert wird, untersucht.

Studie 1 (Perzepte) [10] fokussiert auf den Nachweis von salienten, d.h. sprachlich auffälligen Merkmalen (vgl. Lenz 2010). Alemannische Dialektdaten aus den Orten Chur, Trin und Trun werden von Probandinnen und Probanden aus den Kantonen Graubünden und Zürich kommentiert. Die Studie geht zum einen der Frage nach, ob die Zürcher Sprecherinnen und Sprecher Unterschiede zwischen den deutschen Varietäten in traditionell deutschsprachigen Gebieten Graubündens und in traditionell rätoromanischen Gebieten wahrnehmen. Zum anderen wurde die Frage gestellt, inwiefern die Sprecherinnen und Sprecher aus dem Churer Rheintal ihren Dialekt als von den aufgenommenen Varietäten aus dem Bündner Oberland deviant beurteilen.

Studie 2 (Konzeptualisierungen) [11] befragt Probandinnen und Probanden aller drei Bündner Sprachgruppen aus elf Orten, die sich auf den ganzen Kanton Graubünden verteilen. Die Studie geht der Frage nach, wie die sprachliche Vielfalt von den Bündnerinnen und Bündnern wahrgenommen wird, was die linguistischen Laien über die eigene Varietät und über geographisch weiter entfernte Varietäten wissen und wo sie diese verorten. Dazu soll beleuchtet werden, ob das besondere Verhältnis von Sprache und Raum massgeblich zu einer bündnerischen Identität beiträgt und ob die sprachliche Situation als (kultureller) Mehrwert angesehen wird.

4.2. Untersuchungsdesign

Bei der besagten Perzeptionsstudie (Studie 1) wurden den Probanden Stimmproben vorgelegt, welche sie in Bezug auf bestimmte Aspekte beurteilen sollten. Die Proben stammen von je drei Sprecherinnen aus den Orten Chur, Trin und Trun. Die Wahl fiel auf diese drei Orte, da sich die untersuchten Varietäten in der Intensität des Sprachkontakts zwischen dem Alemannischen und dem Rätoromanischen unterscheiden, wobei die Intensität von Trun über Trin nach Chur abnehmend ist.[12]

Die für die Perzeptionsstudie aufgenommenen Sprecherinnen waren zum Zeitpunkt der Aufnahme zwischen 18 und 30 Jahren alt. Die L1 der Sprecherinnen aus Trin und Trun ist Rätoromanisch und sie sprechen diese Sprache mit beiden Elternteilen. Die Sprecherinnen aus Trun haben Deutsch im Alter von 9 Jahren als L2 in der Schule erworben, während die Sprecherinnen aus Trin bilingual aufgewachsen sind. Die Sprecherinnen aus Chur sprechen kein Rätoromanisch. Alle Sprecherinnen wurden gebeten, einen schriftlich vorgegebenen hochdeutschen Text in ihren Dialekt zu übertragen und davon eine Aufnahme mit ihrem Smartphone zu erstellen.[13]

Die Aufnahmen dienten als akustische Stimuli, die von je 13 Probandinnen und Probanden aus den Kantonen Zürich und Graubünden angehört wurden. Die Gewährspersonen aus Graubünden sind in Chur und Umgebung (Felsberg, Domat/Ems, Zizers, Trimmis, Untervaz) wohnhaft. Vorgängig wussten die Informanten lediglich, dass sie schweizerdeutsche Aufnahmen hören würden, aber sie wurden nicht darüber informiert, aus welcher Region die Aufnahmen stammen. Die Antworten wurden schriftlich gegeben, pro Aufnahme konnten höchstens fünf Merkmale genannt werden.

Abbildung 1: Erhebungsorte (viereckige Symbole) und Untersuchungsorte (dreieckige Symbole).

Zu jeder Aufnahme wurden dieselben Fragen gestellt. Zuerst wurde gefragt, ob sich der gehörte Dialekt vom eigenen unterscheidet. Mit der zweiten Frage wurden die Gewährspersonen gebeten, ihre Antwort zu spezifizieren und genauer zu erläutern, worin allfällige Unterschiede bestehen. Die dritte Frage bezog sich auf die affektive Bewertung der gehörten Varietäten: Aus einer Reihe von Adjektiven (bspw. sympathisch, deutlich, markant, urchig, präzise) konnten diejenigen ausgewählt werden, die den soeben gehörten Dialekt am besten charakterisieren.

Für die Untersuchung des sprachlichen Wissens (Studie 2) wird die Methode der Mental Maps bzw. Hand-drawn-maps angewendet. Handgezeichnete Karten dringen tief in die konzeptionelle Welt der befragten Personen ein: Sie reflektieren nicht nur die Konzepte von (Dialekt)räumen, sondern auch die assoziierten Überzeugungen über Sprecher und deren Varietäten (vgl. Preston 2010: 11). Studie 2 arbeitet also nicht mit konkreten Sprachaufnahmen als Stimulus, sondern es wird die Vorstellung, die die Probandinnen und Probanden  von unterschiedlichen Ortsdialekten haben, abgefragt.[14]

Abbildung 2: Untersuchungsorte.

Acht der elf untersuchten Orte befinden sich im deutschsprachigen Gebiet, zwei Orte repräsentieren das romanischsprachige Gebiet und zwei der Orte befinden sich im italienischsprachigen Teil Graubündens. Pro Untersuchungsort wurden acht Personen in einem persönlichen Interview befragt. Die Probandinnen und Probanden wohnen zum Zeitpunkt der Datenerhebung im Untersuchungsort, müssen aber nicht zwingend dort sozialisiert worden sein. Sie sind im Alter zwischen 18 und 72 Jahren; eine Unterteilung in mindestens zwei Altersgruppen wird dadurch möglich und ist für die Auswertung sinnvoll (vgl. Hundt et al. 2017). Die Muttersprache der Gewährspersonen entspricht der Hauptsprache des Ortes; einige Ausnahmen mussten bei zweisprachigen Gewährspersonen gemacht werden. Die Auswahl der Stichprobe erfolgte mit dem Schneeballverfahren, d.h. in jedem Untersuchungsort wurden eine oder mehrere Personen aus dem Bekannten-, Freundes- und Familienkreis angefragt, die dann multiplikatorisch fungierten: Wenn ein Interview abgeschlossen war, wurde die Gewährsperson gefragt, ob sie weitere potentielle Probanden kenne (vgl. Anders 2010: 124).[15] 

Abbildung 3: Leere Makrokarte für den Draw-a-map-Task Grossraum (Quelle Karte: Bundesamt für Landestopographie Swisstopo).

Es wird methodenpluralistisch vorgegangen, das heisst die Gewährspersonen führen unterschiedliche Aufgaben aus. Eine der Aufgaben war der Draw-a-map-Task: Die Probandinnen und Probanden wurden gebeten, auf der Karte (vgl. Abb. 3[16]) Gebiete einzuzeichnen, in welchen gleich gesprochen wird. Nach dem Einzeichnen wurden die Sprechweisen der Gruppen benannt und anhand von Merkmalen beschreiben. Ausserdem wurde gefragt, wie es tönt, wenn die alemannische bzw. die rätoromanische oder italienische Varietät als L2 gelernt wurde. Weiter wurde gefragt, ob bestimmte Regionen als besonders sympathisch oder unsympathisch angesehen werden, ob Mentalitätsunterschiede bestehen und was andere Schweizerinnen und Schweizer über Graubünden und deren Sprachen denken.

5. Ergebnisse

5.1. Perzepte: «das R wird anders gesprochen»

Wenn Äusserungen von linguistischen Laien klassifiziert werden sollen, ist

es in vielen Fällen gar nicht eindeutig möglich […], die Dialektbeschreibungen der Sprecher linguistischen Kategorien zuzuordnen, da sich diese zum Teil erheblich sowohl terminologisch als auch bezüglich der zugrunde liegenden Konzepte voneinander unterscheiden. (Stoeckle 2014: 446)

Anders (2010) schlägt vor, die Merkmale in einem ersten Schritt vier Oberkategorien zuzuteilen. Die Oberkategorien werden bewusst sehr allgemeinsprachlich gehalten und unterscheiden (1) lautliche Besonderheiten, (2) morphosyntaktische Beschreibungen, (3) Wortassoziationen und (4) Aussagen zur regionalen Varietät (vgl. Anders 2010: 268). In einem weiteren Schritt werden die Oberkategorien in Unterkategorien und Subgruppen ausdifferenziert, damit eine möglichst monotypische Klassifizierung aller vorhandenen Merkmale gewährleistet werden kann (vgl. Anders 2010: 268).[17] Das Ziel der Klassifikation ist, «die Beschreibungsschemata der Befragten möglichst authentisch nachzubilden» (Anders 2010: 270).

Die erste Oberkategorie fasst vokalische, konsonantische und Assoziationen zu den Suprasegmentalia zusammen. Die vokalischen und konsonantischen Assoziationen können spezifisch sein, d.h. es wird auf einen bestimmten Laut referiert, oder unspezifisch, beispielsweise in der Erwähnung, dass ein Laut helloder dunkel ist. Unter suprasegmentalen Assoziationen sind alle Äusserungen bezüglich Prosodie, Betonung, Sprechtempo, Rhythmus und Aussprache zusammengefasst; diese wurden nicht weiter ausdifferenziert, da die Kategorien von den linguistischen Laien nicht immer auseinander gehalten wurden. In der zweiten Oberkategorie werden morphologische und syntaktische Beschreibungen erfasst, die ebenfalls «oftmals nicht immer klar voneinander getrennt werden [können]» (Anders 2010: 271). Die Kategorie wird in zwei Unterkategorien eingeteilt: morphologische (beispielsweise zur Wortbildung oder zur Flexion) undsyntaktische Beschreibungen. Die dritte Oberkategorie umfasst Wortassoziationen, die Unterkategorie wird mit Lexikalische Besonderheiten betitelt. In Anlehnung an die erste Oberkategorie finden sich zwei Subgruppen: spezifische und unspezifische Beschreibungen.

Entscheidend für die Klassifikation dieser Assoziationen in eine wortbezogene Kategorie ist, dass die linguistischen Laien keine Einzellaute genannt und beschrieben haben, sondern ganze Wörter und Wortgruppen, die stellvertretend für regionale lautliche Besonderheiten stehen. (Anders 2010: 272)

Die vierte Oberkategorie enthält Aussagen zur regionalen Varietät und hauptsächlich bewertende Parameter. Mit dieser Kategorie werden Aussagen zur Dialektbewertung (Ähnlichkeit, Ästhetik, Verständnis, Deutlichkeit), zu fremdsprachlichen Assoziationen und zu Raumparametern gefasst.

Die folgende Tabelle zeigt, welche Merkmale genannt wurden, um das Alemannische aus Trun zu beschreiben. Die Tabelle erfasst die drei häufigsten Nennungen.

Tabelle 1: Die drei häufigsten genannten Merkmale des Alemannischen aus Trun aus der Sicht der Churer und Churer Rheintaler Gewährspersonen.

Es wird ersichtlich, dass bei der Beschreibung des Ortsdialekts zwei der vier Oberkategorien repräsentiert sind. Am häufigsten wird auf die lautliche Besonderheit im Konsonantismus verwiesen (N = 14).[19] Ebenfalls auf lautlicher Ebene finden sich suprasegmentale Beschreibungen (N = 7) wie beispielsweise, dass die «Aussprache gleich» (Proband 3) sei, dass man eine «andere Betonung» (Proband 4) höre oder dass einzelne Buchstaben verschluckt werden würden (Proband 1). Interessant ist hierbei, dass ein Proband feststellt, dass man «[i]n der Betonung […] hört, das[s] sie nicht von der gleichen Region ist (eher Engadin)» (Proband 7). Durch die Betonung wird die Aufnahme also – wenn auch nicht ganz korrekt – sprachgeografisch verortet.

Die hier dargestellten Merkmale können als saliente Merkmale bezeichnet werden. Als «salient» wird etwas verstanden, das auffällig ist und hervorsticht. In der Linguistik wird der Terminus «Salienz» recht uneinheitlich verwendet (vgl. Lenz 2010: 104). Auer (2014) plädiert beispielsweise dafür, für die Salienz drei Bedingungsgefüge zu unterscheiden, die in einem hierarchischen Verhältnis stehen: die physiologische Salienz, d.h. die einfachste Ebene der Wahrnehmung (S. 9, 13); die kognitiv bedingte Salienz, die sich auf den Gegensatz zwischen verschiedenen Sprechweisen bezieht, denn erst durch den Vergleich mit anderen Sprechweisen fallen Merkmale auf (S. 10); sowie die soziolinguistisch bedingte Salienz, d.h. das Merkmal bezieht seine Auffälligkeit daraus, dass es sozial oder affektiv bewertet wird (S. 10, 12).

Purschke (2011, 2014) tritt dafür ein, die Termini «Salienz» und «Pertinenz» als Basiskategorien von Hörerurteilen zu verwenden. Die «Salienz» ist dabei «die Perzeption sprachlicher Auffälligkeiten», die «Pertinenz» die «Bestimmung der subjektiven Bedeutung solcher Auffälligkeiten in der Interaktion» (Purschke 2014: 33). In der sprachlichen Interaktion, in welcher der Hörer Informationen wahrnimmt, entscheidet die Salienz darüber, ob etwas ‘auffällig’ oder ‘nicht auffällig’ ist und die Pertinenz, ob etwas ‘relevant’ oder ‘nicht relevant’ ist; zu der reinen Auffälligkeit des Merkmals kommt also die situative Bedeutung hinzu, «die der Hörer salienten Merkmalen zugesteht (oder nicht) und von der sein kommunikatives Handeln beeinflusst wird» (Hettler 2017: 31).[20] Purschke (2011: 82) geht davon aus, dass sprachliche Merkmale «ohne kommunikative Konsequenzen bleiben», wenn sie «situativ als nicht signifikant oder interaktionell als akzeptabel bewertet [werden]».

Als erster Befund von Studie 1 in Bezug auf die Realisation des Vibranten kann festgehalten werden, dass die von Werlen (1980: 57) aufgestellte These der «Auffälligkeit und Merkmalhaftigkeit der nicht-apikalen Varianten» bestätigt werden konnte: Das Merkmal wurde von den Probandinnen und Probanden aus Chur und dem Churer Rheintal insgesamt 18 Mal als auffällig benannt, 14 Mal davon bei den Aufnahmen aus Trun. Es stellt sich nun in einem nächsten Schritt die Frage, welche sprachlichen Mittel die Probanden verwenden, um das Merkmal zu beschreiben.

Tabelle 2: Beschreibungen der Variation des untersuchten Phonems (Studie 1).

Die Tabelle verdeutlicht das von Lenz (2010) angesprochene Problem: Das Merkmal wird als auffällig klassifiziert, doch die Probanden müssen auf Umschreibungen zurückgreifen. Am häufigsten wird das Merkmal in Bezug auf die Artikulation beschrieben: Die Probanden beschreiben die Artikulation des /r/ als «rollend», für den Probanden 10 hört es sich an, als ob das /r/ bei der Artikulation verschlungen werde. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass der Begriff «rollend» von linguistischen Laien nicht einheitlich verwendet wird: Drei der ebenfalls befragten Zürcherinnen und Zürchern stellen nämlich fest, dass das /r/ eben «nicht gerollt [wird]» (Probanden 6, 12).[22]

Andere Probanden beziehen sich auf die Aussprache des Vibranten. Auffällig ist dabei die Einschätzung von Proband 12, die stark evaluativ geprägt ist und die die von der eigenen Variante abweichende Form als «nicht richtig» beschreibt. Weiter wird erwähnt, dass der Vibrant als sehr präsent (Proband 10) und «stark betont» (Proband 13) wahrgenommen wird. Insbesondere fällt auf, dass dies für den Probanden 13 mit der Herkunft der aufgenommenen Sprecherinnen zusammenzuhängen scheint («klingt nach Romane» bzw. «klingt sehr nach romanischer Muttersprache»); dass die Betonung ein Faktor ist, der hilft, die Sprecher sprachgeografisch zu verorten, konnte bereits oben gezeigt werden (vgl. Aussage des Probanden 7). Eine abwertende Haltung bzw. eine negative Charakterisierung in Bezug auf das uvulare [ʀ] (vgl. Eckhardt 2021, 83–84,  vgl. Werlen 1980: 57) lässt sich nur bei einem Probanden nachweisen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die uvulare Realisation des Vibranten für die deutschsprachige Bevölkerung ein salientes Merkmal mit stereotypem Charakter (Eckhardt 2021, 282-284) darstellt. Um das Merkmal zu beschreiben wird auf unterschiedliche sprachliche Mittel zurückgegriffen. Das Merkmal wird lediglich von einem Probanden geografisch verortet.

5.2. Konzeptualisierungen: «Also halt so das [ʀ], ja, das so hinten, das [ʀ]»

Im Unterschied zur Studie 1 stellt sich in der Studie 2 nicht die Frage, ob der rätoromanische Hintergrund erkannt wird, sondern wie er erkannt wird bzw. wie die Informantinnen und Informanten glauben, Sprecherinnen und Sprecher aus der Surselva erkennen zu können. Beim Draw-a-map-Task zeichneten die Probanden die Sprachregionen zuerst auf der Karte (vgl. Abb. 3) ein. Der Sprachraum «Surselva/Oberland» wurde von allen Probanden eingezeichnet, mit unterschiedlichen Grenzen in Richtung deutschsprachiges Gebiet: die Grenze wurde sechs Mal bei Laax/Versam, vier Mal bei Tamins, drei Mal bei Trin, zwei Mal bei Ilanz und einmal bei Domat/Ems gesetzt. Die folgende Tabelle visualisiert die drei meistgenannten Merkmale, die bei der Betrachtung des Sprachraums «Oberland/Surselva» assoziiert, d.h. in Verbindung gebracht wurden.

Tabelle 3: Die drei häufigsten genannten Merkmale des Alemannischen der Surselva aus der Sicht der Churer und Churer Rheintaler Gewährspersonen.

Es fällt auf, dass auch bei der zweiten Studie die lautliche Besonderheit des Konsonanten an erster Stelle steht; das Merkmal wurde von neun der sechzehn Probanden genannt. Ebenfalls an erster Stelle stehen die Beschreibungen der Suprasegmentalia, also Äusserungen zur Aussprache und Betonung («Man merkt einfach, diese Person redet Romanisch und ich finde, ich merke das an der Betonung und klar auch an der Aussprache», Proband 1), zum Akzent («Wenn sie Deutsch reden halt mit ihrem Akzent», Proband 10) oder zum ‘Slang’ («man [hört] es schon ziemlich, dass die den Oberländer-Slang drinnen haben», Proband 15). An dritter Stelle stehen Äusserungen zur Nominalflexion; die Probanden gehen auf die Sprachkompetenz der Sprecherinnen und Sprecher ein und stellen «Fallfehler» (Proband 9) fest. Diese regionale Markierung ist systembedingt vom Romanischen beeinflusst.[23]

Die Kommentare der linguistischen Laien zum Konsonanten sollen ebenfalls genauer geprüft werden: Wie wird das Merkmal im Diskurs beschrieben?

Tabelle 4: Beschreibungen der Variation des untersuchten Phonems (Studie 2).

Bei Durchsicht der transkribierten Zitate fällt auf, dass auch in der mündlichen Abfrage auf Umschreibungen zurückgegriffen wird. Die Beschreibung «rollend» (Artikulationsart) wird, wie bei den Probanden aus Studie 1, ebenfalls verwendet. Interessant ist die Äusserung von Proband 12, der auf die diachrone Variation hinweist.

Drei weitere Probanden beziehen sich auf den Artikulationsort: Das /r/ werde «hinten» (Probanden 9 und 14) bzw. «im Hals unten» (Proband 11) gesprochen. Proband 11 untermauert seine Aussage, indem er das Merkmal für eine Imitation verwendet; auf dieselbe Strategie greift auch Proband 13 zurück.[24] Die Aussage des Probanden 6 bezieht sich auf die Häufigkeit des Merkmals, das «einfach die ganze Zeit» (Proband 6) vorhanden sei. Auch in diesem Setting findet sich lediglich eine evaluative Beschreibung: Die Variante des Vibranten sei «etwas speziell» (Proband 10).

Im Datenmaterial fällt auf, dass vier Probanden das Merkmal r in Kombination mit einer Äusserung zu den Suprasegmentalia erwähnt haben, so beispielsweise Proband 10: «Wenn sie Deutsch reden halt mit ihrem Akzent. Mit dem etwas speziellen [r]». Ein weiteres Zitat, das erwähnenswert ist, ist die Kombination vom Merkmal und einer weiteren evaluativen Beschreibung: Bei einem Bekannten, so die Aussage von Proband 12, «merkst du auch ein wenig das [r], das finde ich recht sympathisch»; das Merkmal ist also gleichzeitig auffällig und wird bewertet.

6. Synthese

Der Vergleich von Daten aus zwei Studien bietet die Möglichkeit, ein sprachliches Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Trotz verschiedener Settings lassen sich bei den Ergebnissen Parallelen feststellen. Die Resultate zeigen, dass die Artikulation des Vibranten für die rein deutschsprachig aufgewachsenen Personen aus Chur und dem Churer Rheintal einen «dialektale[n] Marker» (Sauer 2017: 215)[25] darstellt und ein «typisches – stereotypisches – Merkmal» (vgl. Eckhardt 2021, 312) ist. Durch den Nachweis, dass die vom eigenen Sprachsystem abweichende Variante als auffälliges Merkmal klassifiziert wird, kann zudem gezeigt werden, dass Salienz systemabhängig ist (vgl. Adam-Graf/Hasse 2020).

Beide Probandengruppen haben, trotz unterschiedlicher Stimuli, auf ähnliche sprachliche Umschreibungen zurückgegriffen, um das Merkmal schriftlich bzw. mündlich zu erfassen. Beide Probandengruppen sind auf die Artikulationsart eingegangen, die Artikulation des /r/ wurde als «rollend» beschrieben. Die Probanden, die den visuellen Stimulus betrachtet haben, beschrieben, der Laut werde «hinten» artikuliert. Die Probanden, die sich den auditiven Stimulus angehört haben, haben sich zur Aussprache und zur starken Betonung des Vibranten geäussert. Eher negative Äusserungen zum Merkmal finden sich lediglich zwei. Zwei weitere Probanden verwenden Imitationen.

Weiter wurde der Frage nachgegangen, ob das Merkmal dazu dient, die Herkunft der Sprecherinnen und Sprecher zu identifizieren. Bei Studie 1 wurde festgestellt, dass nur ein bzw. zwei Probanden direkt dazu Stellung genommen haben. Dies liegt möglicherweise daran, dass Bezüge zum Raum nicht explizit abgefragt wurden, sondern dass die Gewährspersonen ein Urteil darüber abgeben mussten, ob und wie sich die Varietäten von ihrer eigenen Varietät unterscheiden. Studie 2 wählt einen Ansatz, der die Verknüpfung von Sprache und Raum direkt abfragt. Es zeigt sich, dass die Gewährspersonen in der Lage sind, zu den unterschiedlichen Sprachräumen Merkmale zu assoziieren. In Bezug auf den Raum «Oberland/Surselva» scheinen vor allem Merkmale kognitiv auffällig zu sein, die sich der Oberkategorie lautliche Besonderheiten zuordnen lassen. Das Vorkommen des Merkmals r sowie die Betonung der alemannischen Varietät scheint stellvertretend für die gesamte Region angesehen zu werden, auch wenn das Merkmal nicht überall auftritt. Dies stützt die Vermutung, dass das Merkmal stereotypen Charakter besitzt, da die sprachliche Umgebung «in Kategorien eingeteilt und organisiert» und «auf diese Weise vereinfacht wird» (Cuonz 2014: 41).

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Merkmal durch die soziale Bewertung, mit welcher die räumliche Verortung einher geht, nebst der kognitiv bedingten Auffälligkeit an Salienz gewinnt (vgl. Auer 2014). Ebenso deuten die Resultate der Studie 2 – insbesondere wegen den Imitationen von zwei Probanden – darauf hin, dass die uvulare Realisation des Vibranten auch ein sozialer Stereotyp ist (vgl. Auer 2014: 19). Im Diskurs (Studie 2) wird das Merkmal nicht nur als ‘auffällig’ klassifiziert, sondern auch als für die Bewertung der Mundart ‘relevant’ (vgl. Purschke 2011, 2014). Das eigene, kommunikative Handeln wird durch dieses Wissen zwar nicht beeinflusst, scheint aber im Rahmen der Interaktion wichtig zu sein, da sich durch das Vorhandensein der vom eigenen System abweichenden Variante weiteres Wissen über die sprachliche Umgebung festsetzt.

Meine Masterarbeit (Studie 1) zeigt, dass die Varietät der Sprecherinnen aus Trun von mehreren Probanden aus Chur und dem Churer Rheintal als abweichend vom eigenen Dialekt eingestuft werden, aber es wird dennoch konstatiert, dass der Dialekt «ansonsten» gleich ist (vgl. Adam-Graf 2018: 80). Dies bestätigt die Annahme, dass zwar sprachliche Variation wahrgenommen wird, sich die Varietäten aber nur in wenigen, dafür salienten, Merkmalen unterscheiden. Die Resultate zeigen, dass man von einer (fast) perfekten Zweisprachigkeit der Romanischsprecher ausgehen kann, die «ein duales Kommunikationssystem integriert» haben (Solèr 1998: 161–162). Die Äusserungen zur Flexion (vgl. Studie 2) deuten darauf hin, dass sich die linguistischen Laien auf die Sprachkompetenz beziehen[26], die Auffälligkeiten, die die «geschulten Bündner-Hörer» im Hörerurteil bemerkt haben bzw. im Verorten der Varietäten kommuniziert haben, beziehen sich jedoch nicht primär darauf, sondern auf lautliche Merkmale.

Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Realisation des Vibranten ein kognitiv und sozial auffälliges Merkmal darstellt, das die Herkunft der Sprecherinnen und Sprecher in der Interaktion mit rein deutschsprachigen Bewohnerinnen und Bewohnern Graubündens preisgibt und auch preisgeben darf, dass also auch verraten werden darf, dass der Sprecher bzw. die Sprecherin mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen ist. Denn, so stellt beispielsweise Proband 11 für die sprachliche Situation in Graubünden fest:

Überhaupt so die Mehrsprachigkeit, das ist natürlich immer fantastisch, wenn einer mehr Sprachen kann. Da kann man sich nicht darüber lustig machen, sondern es ist lobenswert, dass verschiedene Sprachen gepflegt werden und man nahtlos hin und her switchen kann. Das ist wirklich eine Leistung.

Endnoten

[1] Die Bezeichnung «Churerrheintalisch» wurde in Eckhardt (2016) gefestigt und definiert. Für das Alemannische der romanischsprachigen Bevölkerung verwendet Eckhardt (2021) die Bezeichnung «Alemannisch der Rumantschia» (AdR) bzw. «Alemannisch der Surselva» (AdS).

[2] Zur Begriffsklärung vgl. Kap. 5.1.

[3] Der Begriff «Laienlinguistik» ist als Oberbegriff des Forschungszweigs anzusehen. In der Forschungsliteratur finden weitere Termini wie «Perceptual Dialectology» (vgl. Hundt / Palliwoda / Schröder 2017), «Wahrnehmungsdialektologie» (vgl. Anders 2010) oder «Perzeptionslinguistik» (vgl. Purschke & Stoeckle 2019) Verwendung. Nicht linguistisch ausgebildete Personen werden als «linguistische Laien» bezeichnet, dies im Gegensatz zum Linguisten, der in sprachlichen Fragen als «Experte» fungiert. Wichtig ist die Erkenntnis, dass sich «Laien» und «Experten» in diesem Verständnis auf einem Kontinuum befinden.

[4] Jaworski, Adam / Coupland, Nikolas / Galasinski, Dariusz (1998): Metalanguage. Social and Ideological Perspectives, New York.

[5] Preston, Dennis (1998): Folk Metalanguage, in: Metalanguage. Social and Ideological Perspectives, 1998: 75–101.

[6] Dadurch, dass die Daten von «Metasprache 3» indirekt zugänglich sind, schlägt Preston (1993; 1994) vor, als Analysetechnik die inhaltsorientierte Diskursanalyse zu verwenden (vgl. Cuonz 2014: 18).

[7] Die Unterscheidung der Produktionsquellen (extern, intern) und Sprachbetrachtungstypen (bewusst, unbewusst) soll nicht als trennscharf angesehen werden; bei jeder Art von Datenerhebung werden bei den Informanten bewusste und unbewusste Prozesse gleichzeitig aktiviert, dies kann sogar zu widersprüchlichen Aussagen seitens der Gewährspersonen führen (vgl. Cuonz 2014: 30).

[8] Die beiden Schrägstriche kennzeichnen den Vibranten als Phonem. Ein Phonem kann als «kleinste[s], aus der Rede abstrahierte[s], lautliche[s] Segment mit potentiell bedeutungsunterscheidender (distinktiver) Funktion» bezeichnet werden. Die phonetischen Einheiten, d.h. die tatsächliche(n) Realisation(en) eines Lauts (Phone) werden in eckigen Klammern notiert (Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 522).

[9] Als Vibrant wird ein Sprachlaut bezeichnet, «der durch intermittierende Artikulation entsteht, d.h. durch Vibrieren von Unter- gegen Oberlippe (bzw. Oberzähne), von Apex gegen die Alveolen, von Uvula gegen den hinteren Zungenrücken, von Hinterzunge gegen Palatum.» Ein Frikativ ist ein «Reibelaut»: Bei der Artikulation gibt es «im Ansatzrohr mindestens eine Enge […], an der die ausströmende Luft Reibung erzeugt» (Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 781 und S. 205).

[10] Vgl. (Adam-)Graf, Noemi (2018): Auffällige Merkmale des Alemannischen von Chur, Trin und Trun aus Zürcher und Bündner Sicht. Eine Perzeptionsstudie, Zürich 2018 (unpubl. MA-Arbeit).

[11] Vgl. Adam-Graf, Noemi (i. Vorb.): Wahrgenommene und gelebte Sprachen- und Dialektvielfalt in Graubünden. Der bündnerische Sprachraum aus wahrnehmungsdialektologischer Sicht (Arbeitstitel). Ein Forschungsprojekt des Instituts für Kulturforschung Graubünden.

[12] Trun ist noch immer ein Ort mit starker Präsenz des Rätoromanischen. Im talauswärts gelegenen Trin nimmt die Bedeutung des Rätoromanischen aufgrund der geografischen Nähe zu Chur in den letzten Jahrzehnten hingegen ab und es ist nicht mehr in allen Domänen gleich stark vertreten. In Chur selbst werden alle drei Kantonssprachen gesprochen, das Deutsche ist jedoch klar am stärksten vertreten.

[13] Als Stimulus für die Perzeptionsstudie dienten die ersten beiden Sätze der Erzählung Der Nordwind und die Sonne: «Einst stritten sich Nordwind und Sonne, wer von ihnen beiden wohl der Stärkere wäre, als ein Wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des Weges daherkam. Sie wurden einig, dass derjenige für den Stärkeren gelten sollte, der den Wanderer zwingen würde, seinen Mantel auszuziehen.»

[14] Bei den vorgestellten Ergebnissen der Studie 2 wird nicht das gesamte Datenmaterial analysiert, sondern es fliessen nur die Kommentare der Informanten aus Chur und Landquart in die Resultate mit ein.

[15] Obwohl die Stichprobe nicht repräsentativ ist, da sich die empfohlenen Personen möglicherweise kennen und sich dadurch in ihrem soziodemografischen Profil tendenziell eher ähneln, ist dies für die vorliegende Untersuchung nicht problematisch, da davon ausgegangen wird, «dass die Ergebnisse für den erhobenen Sachverhalt relevant sind» (Anders 2010: 124).

[16] Je nach Erkenntnisinteresse können unterschiedlich detaillierte Karten verwendet werden. Für die vorliegende Fragestellung wurde eine Karte mit maximaler Informationsdichte im Massstab 1 : 500'000 verwendet. Für eine weiterführende Diskussion zu möglichen Stimuli, die mentale Raumbilder aktivieren, vgl. Kehrein, Roland / Lameli, Alfred / Purschke, Christoph (2010): Stimuluseffekte und Sprachraumkonzepte, in Perceptual Dialectology. Neue Wege der Dialektologie, 2010: 351–384.

[17] Anders (2010: 268) weist darauf hin, dass bei der Klassenbildung darauf geachtet werden soll, «die Benennungen nicht vorschnell in linguistische Kategorien einzuordnen», damit «die Authentizität der Laienbeschreibungen und -verortungen [nicht] gefährdet» wird.

[18] Die Salienz des Lexems <ausziehen> ist aufgrund der unterschiedlichen Varianten, die die Sprecherinnen aus Trun verwenden, nicht restlos geklärt. In Bezug auf das Merkmal sei auf die weiterführende Diskussion in Adam-Graf/Hasse (2020) verwiesen.

[19] Die Aussagen der Probandinnen und Probanden der Studie werden im Folgenden in anonymisierter Form widergegeben. Es wird deshalb von den Probanden in männlicher Form gesprochen, es nahmen an beiden Studien jedoch sowohl männliche als auch weibliche Probanden teil.

[20] Hettler, Yvonne (2017): Hörer- und Sprechertypen in Bremen und Hamburg. Eine Untersuchung zu Sprachwissen, Sprachwahrnehmung und Sprachgebrauch, in: Linguistik Online 6/17, 29–56.

[21] Die Probanden 2 und 4 haben das Merkmal bei den beiden Sprachaufnahmen aus Trun, bei welchen das Merkmal vorhanden ist, jeweils zwei Mal genannt.

[22] Ebenfalls wird ersichtlich, dass sich das Sprecherwissen der Zürcher und Bündner Probanden aufgrund des Wohnorts unterscheidet: Mehrere Zürcher Probanden erwähnen, dass sie ein ein «französisches R» (Proband 6) hören bzw. das /r/ werde «’französisch’ ausgesprochen» (Proband 12), sei «fast schon französisch klingend» (Proband 7).

[23] Vgl. Solèr 1994 (unpubl.): Schweizerdeutsch und Rätoromanisch im Kontakt.

[24] Die Imitation des Merkmals scheint das Alemannische der Romanischsprechenden zu stigmatisieren, d.h. negativ zu behaften (vgl. Eckhardt 2021, 83f). Die Probanden 11 und 13 gehören der älteren Probandengruppe an. Möglicherweise waren solche Vorurteile gegenüber den Romanischsprechern früher noch eher verbreitet als dies heute der Fall ist.

[25] Sauer, Verena (2017): «Wenn der Sprache Grenzen gesetzt werden». Eine wahrnehmungsdialektologische Untersuchung im Fränkischen und Thüringischen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, in: Linguistik Online 6/17, S. 203–225.

[26] Auch hier schimmert ein Vorurteil durch, welches heute auf einen grossen Teil der Romanischsprechenden nicht mehr zutrifft.

Bibliografie

Auer, Peter (2014): Anmerkungen zum Salienzbegriff in der Soziolinguistik, in: Linguistik Online 4/14, 7–20.

(Adam-)Graf, Noemi (2018): Auffällige Merkmale des Alemannischen von Chur, Trin und Trun aus Zürcher und Bündner Sicht. Eine Perzeptionsstudie, Zürich 2018 (unpubl. MA-Arbeit).

Adam-Graf, Noemi (i. Vorb.): Wahrgenommene und gelebte Sprachen- und Dialektvielfalt in Graubünden. Der bündnerische Sprachraum aus wahrnehmungsdialektologischer Sicht (Arbeitstitel). Ein Forschungsprojekt des Instituts für Kulturforschung Graubünden.

Adam-Graf, Noemi / Hasse, Anja (2020): «Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann». Eine perzeptionslinguistische Untersuchung der Orte Chur, Trin und Trun an der deutsch-romanischen Sprachgrenze, in: Regiolekte – Objektive Sprachdaten und subjektive Sprachwahrnehmung, Tübingen, 2020: 185–210.

Anders, Christina A. (2010): Wahrnehmungsdialektologie. Das Obersächsische im Alltagsverständnis von Laien, Berlin etc.

Berthele, Raphael (2010): Der Laienblick auf sprachliche Varietäten: Metalinguistische Vorstellungswelten in den Köpfen der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer, in: Perceptual Dialectology. Neue Wege der Dialektologie, Berlin etc., 2010: 245–267.

Cuonz, Christina (2014): Sprachliche Werturteile von Laien, Tübingen.

Eckhardt, Oscar (2021): Alemannisch in der Rumantschia. Die alemannischen Dialekte im romanischen Sprachraum von Trin, Ilanz, Trun und Scuol. Ein Forschungsprojekt des Instituts für Kulturforschung Graubünden. Stuttgart.

Hundt, Markus / Palliwoda, Nicole / Schröder, Saskia (2017): Einleitung, in: Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien. Ergebnisse des Kieler DFG-Projektes, Berlin etc., 2017: 1–11.

Lenz, Alexandra N. (2010): Zum Salienzbegriff und zum Nachweis salienter Merkmale, in: Perceptual Dialectology. Neue Wege der Dialektologie. Berlin etc., 2010: 89–110.

Preston, Dennis R. (2010): Perceptual Dialectology in the 21st Century, in: Perceptual Dialectology. Neue Wege der Dialektologie, Berlin etc., 2010: 1–29.

Purschke, Christoph (2011): Regionalsprache und Hörerurteil. Grundzüge einer perzeptiven Variationslinguistik, Stuttgart.

Purschke, Christoph (2014): «I remember it like it was interesting.» Zur Theorie von Salienz und Pertinenz, in: Linguistik Online 4/14, 31–50.

Solèr, Clau (1998): Sprachkontakt = Sprachwechsel. Deutsch und Romanisch in Graubünden, in: Mehrsprachigkeit im Alpenraum, Aarau, 1998: 149–163.

Stoeckle, Philipp (2014): Subjektive Dialekträume im alemannischen Dreiländereck. Hildesheim etc.

Werlen, Iwar (1980): R im Schweizerdeutschen, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 47, Heft 1, 52–76.

Willi, Urs / Solèr, Clau (1990): Der rätoromanisch-deutsche Sprachkontakt in Graubünden, in: Germanistische Linguistik 101-103, 445–475.