Abb. 3: Sprachlicher Hintergrund der Schülerinnen und Schüler nach Schultyp
Die Auswertung zeigt, dass vor allem Kinder an zweisprachigen Schulen auch in ihrem familiären Umfeld Mehrsprachigkeit erleben. Von den angewendeten Sprachen her gesehen, scheinen sie im Kanton verwurzelt zu sein, da diese Sprachen hauptsächlich Deutsch, Romanisch und Italienisch sind oder eine Kombination anderer Sprachen mit den Kantonssprachen aufweisen. Insgesamt wachsen fast 50% der Kinder bilingual, weitere von ihnen sogar mehrsprachig auf. Der Anteil der Kinder, deren Eltern keine der beiden Schulsprachen sprechen, ist mit 15 (also ca. 10%) relativ gering. In den romanischsprachigen Schulen fällt auf, dass die Mehrheit der Kinder einsprachig Romanisch aufwächst. Deutsch sprechen etwa 22% bilingual zu Hause, aber nur ca. 6% Prozent der Kinder spricht zu Hause ausschliesslich Deutsch. Etwa 3% Prozent sprechen zu Hause eine nichtkantonale Sprache. Deutsch ist demnach für fast zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler an den romanischsprachigen Schulen eine Fremdsprache. In den deutschsprachigen Schulen ist das Bild etwas anders: Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler sind von zu Hause aus einsprachig deutschsprachig und ca. 6% der Schülerinnen und Schüler wachsen zweisprachig deutsch-romanisch auf. Insgesamt verfügt etwa ein Fünftel (22%) der Schülerschaft über ein zweisprachiges Umfeld, was zwar im internationalen Vergleich durchaus hoch, gegenüber der Schülerschaft an den zweisprachigen Schulen aber eher gering ist. Ein weiteres Fünftel (16%) wächst ausschliesslich mit einer anderen nicht-kantonalen Sprache auf. Diese 16% stellen eine vergleichsweise höhere Quote dar als an den zweisprachigen Schulen.
Als Kanton mit drei Kantonssprachen ist Mehrsprachigkeit ein oft mit Graubünden in Verbindung gebrachtes Thema. Die aktuellen Studienergebnisse zeigen zudem, dass Mehrsprachigkeit in Graubünden auch über die Kantonssprachen hinausgeht, und sie zeigen auch, wie aktiv diese Mehrsprachigkeit im Alltag gelebt wird. So ergab sich an der zweisprachigen Schule in Samedan in der achten Klasse zum Zeitpunkt der Datenerhebung folgendes Bild: Von 25 Schülerinnen und Schülern gaben acht an, zu Hause drei Sprachen zu sprechen und vier gaben an, sogar mit den Freunden drei oder mehr Sprachen zu sprechen. Als Sprachen, die die Familienmitglieder mit anderen verwendeten, wurde insgesamt 22 Mal angegeben, weitere Sprachen nebst Deutsch zu verwenden und 13 Schülerinnen und Schüler gaben an, dass ihre Familienmitglieder drei oder mehr Sprachen mit anderen sprächen. Es gibt wohl wenige Regionen in Europa, in denen Mehrsprachigkeit so allgegenwärtig und so facettenreich ist.
Sprachpluralismus als Standortvorteil
Dieser Sprachpluralismus im privaten Umfeld der Schülerinnen und Schüler Graubündens stellt aus Sicht der Sprachwissenschaft ein grosses Potenzial dar. Wenn gewährleistet wird, dass eine Verwurzelung zumindest in einer Sprache besteht, kann die Mehrsprachigkeit insgesamt sehr positive Effekte freisetzen (vgl. Cummins, 2000; Cathomas & Carigiet, 2008; Nodari & de Rosa, 2006). Zu denken ist z.B. daran, dass Schülerinnen und Schüler verschiedene Sprachen mit in den Unterricht hineinbringen und diese ihren Mitschülerinnen und Mitschülern z.B. über Lieder und Spiele näherbringen. Dies entspräche auch etwa dem Unterrichtsansatz ELBE, der die Sprachbegegnung in den Mittelpunkt rückt (vgl. Nordwestschweizerische Erziehungsdirektion, 2008). Krumm und Reich (2013) schlagen sogar mit ihrem Curriculum der Mehrsprachigkeit ein umfassendes Konzept vor, mit welchem Mehrsprachigkeitsdidaktik direkt in den Unterricht transferiert werden kann. Mehrsprachigkeit sollte nicht als Gefährdung, sondern als Chance verstanden werden. Gerade mit Blick auf eine zunehmend internationale und vernetzte Welt können Kinder so hervorragend auf berufliches und privates Handeln im Dialog mit verschiedenen Kulturen und Sprachen vorbereitet werden. Nicht „nachteilige Folgen im Berufsleben“, wie im eingangs erwähnten Zitat befürchtet, sondern geradezu sehr positive Folgen für das Berufsleben dürften sich den hier dargestellten Ergebnissen nach einstellen. Voraussetzung ist es aber, dass eine gezielte sprachliche Förderung derjenigen erfolgt, die im häuslichen Umfeld wohlmöglich eine eher geringe sprachliche Verwurzelung erfahren (vgl. Nodari & de Rosa, 2006). Für alle anderen Kinder scheint Mehrsprachigkeit ein inspirierendes Umfeld zu bieten, das selbst in der Muttersprache zu höherer Sprachkompetenz führen kann, als dies in einem monolingualen Umfeld der Fall wäre. Besonders positiv ist aber sicher auch die sprachliche Sensitivität und Agilität, die heute im globalen Dialog so wichtig gebraucht wird.
Literatur
Baur, R.S., Goggin, M. & Wrede-Jackes, J. (2013). Der C-Test: Einsatzmöglichkeiten im Bereich DaZ. ProDaZ – Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Online unter https://www. uni-due.de/imperia/md/content/prodaz/c_ test_einsatzmoeglichkeiten_daz.pdf (Stand 28.02.2017).
Broeder, P. & Extra, G. (1999). Language, Ethnicity & Education. Case Studies of Immigrant Minority Groups and Immigrant Minority Languages, 1-21.
Cathomas, R. & Carigiet, W. (2008). Topchance Mehrsprachigkeit: Zwei- und mehrsprachige Erziehung in Familie und Schule. Bern: Schulverlag Plus.
Cummins, J. (2000). Language, Power and Pedagogy. Bilingual Children in the Crossfire. Bristol: Multilingual Matters.
Gregori G.P., Gross M., Todisco V. & Trezzini M. (2011). Schule und Mehrsprachigkeit im Kanton Graubünden. Bündner Monatsblatt - Zeitschrift für Bündner Geschichte, Landeskunde und Baukultur, 1 /2011, 3–34.
Griesshaber, W. (2008). Zweitspracherwerbs-prozesse als Grundlage der Zweitsprachen-förderung. In: B. Ahrenholz (Hrsg.), Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg: Filibach, S. 31–48.
Jankovsky, P. (2016). Streit punkto Sprachunterricht in Graubünden. Gezerre um die Fremdsprachen. NZZ, 11.05.2016, https://www.nzz.ch/schweiz/streit-punkto-sprachunterricht-in-graubuenden-gezerre-um-die-fremdsprachen-ld.82026, (30.03.2017).
Krumm, H.J. & Reich, H.H. (2013). Sprachbildung und Mehrsprachigkeit. Ein Curriculum zur Wahrnehmung und Bewältigung sprachlicher Vielfalt im Unterricht. Münster: Waxmann.
Nodari, C. & de Rosa, R. (2006). Mehrsprachige Kinder. Bern: Haupt.
Nordwestschweizerische Erziehungsdirektion [Hrsg.] (2008). ELBE – Ein Film über die Begegnung mit Sprachen. Bern: Schulverlag Plus.
vom Brocke, C. (2017). Erhebung der Deutschkompetenzen an den zweisprachigen Schulen in Bever, Celerina, Pontresina und Samedan. Unveröffentlichte Studie. Die Studie kann auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden.