Das druckfrische Bündner Monatsblatt 2/2021 widmet sich Migrations- und Emigrationsschicksalen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Tausende verliessen verarmt die bündnerischen Täler, um sich in Übersee eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Umgekehrt kamen viele Menschen nach Davos, um in der Höhe ihre Krankheit behandeln zu lassen. Anhand von zwei konkreten Beispielen, einer Auswandererfamilie aus dem Schams und dem tuberkulosekranken Schriftsteller Klabund, werden diese Schicksale nachgezeichnet. Im abschliessenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern das Erzählen unsere heutige Tourismuskultur prägt und was die Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung sind.
Von den vielen Bündnern und Bündnerinnen, die im 19. Jahrhundert auswanderten, versuchten nicht wenige ihr Glück als Goldgräber in Kalifornien oder in Australien. So auch etliche Schamser. Die Gebrüder Andreas und Esias Piccoli aus Andeer übersiedelten 1873 und 1875 in die Südost-Ecke Australiens, in die Kolonie Victoria. Nachdem sie einige Zeit in den Goldminen und als Fuhrleute gearbeitet hatten, gründeten sie jeweils eine Farm. Der dritte Bruder, Christian, folgte ihnen 1889 nach «Down Under», um es sieben Jahre später in Kalifornien zu versuchen. Doch nach weiteren fünf Jahren kehrte er mit seiner Familie ins Schams zurück und wirkte in der Heimat als Gastwirt. Die beiden älteren Brüder aber etablierten sich dauerhaft auf dem Südkontinent, wo ihre zahlreiche Nachkommenschaft noch heute gedeiht, wie Conradin A. Burga in seinem Beitrag zeigt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Davos zum Zentrum vieler auf Heilung hoffender Tuberkulosekranker. Einer von ihnen war der Schriftsteller Alfred Henschke alias Klabund. Die Germanistin Olga García begibt sich auf die Spuren dieses ruhelosen und höchst produktiven Schriftstellers, der einen grossen Teil seines Werkes in Graubünden schuf. Sein Leben und sein Schaffen sind ein faszinierender Spiegel der bewegten Jahre während und nach dem ersten Weltkrieg in Europa. Der vielseitige und originelle, aber heute weitgehend vergessene Klabund kann im Monatsblatt neu entdeckt werden. Viele Gedichte, Textpassagen, Zeichnungen, Collagen und Fotografien runden den Beitrag ab.
«Erzählen als Aufwertung von Dingen und Orten»: Thomas Barfuss’ These steckt schon im Titel seines Beitrags. Professionell angewendetes Storytelling ist heute ein wichtiges Marketing-Instrument, ja eine Marketing-Strategie. Es macht «aus Dingen und Orten Traditionserzeugnisse, Prestigeobjekte, Antiquitäten, Erlebnisstätten oder Erinnerungsorte». Selbstvermarktende Bäuerinnen im Berggebiet müssen ihre Produkte mit Storytelling begleiten. Kulturschaffende müssen die eigene Person inszenieren, müssen von sich selbst erzählen – und werden so zu einem Faktor der Vermarktung einer Region, ebenso wie das erzählerisch aufgewertete Kulturerbe dieser Region. Umgekehrt kann aber Storytelling tatsächlich ein neues lokalhistorisches Interesse wecken und schliesslich gemeinschafts- und identitätsstiftend wirken.
Besprechungen zweier aktueller historisch-kulturwissenschaftlicher Publikationen runden die neue Ausgabe des Bündner Monatsblattes ab.