Beim Vergleich von Latein (der damaligen Lingua Franca) mit der heutigen Lingua Franca – Englisch ist festzuhalten, dass die Schweizer diese Sprache heute freiwillig lernen (vgl. Haas, in Schläpfer & Bickel, 2000). Ähnlich wie damals, als man Lateinkompetenzen haben musste, sind heute Englischkompetenzen erforderlich, um Erfolg zu haben.
Es wird vermutet, dass in der spätrömischen Zeit (4./5. Jahrhundert) sämtliche Menschen, die auf Schweizer Gebiet lebten, Latein sprachen (vgl. Büchi, 2018). Allerdings begann sich der lateinische Sprachraum schon damals in unterschiedliche Dialekträume aufzuteilen, aus denen die heutigen romanischen Sprachen (Alpinlombardisch, Bündner Romanisch, franko-provenzalische Dialekte) hervorgegangen sind. Die ersten Germanen, die sich im 5. Jahrhundert in der Westschweiz niederliessen, waren Burgunder. Dies geschah aber nicht auf kriegerische, sondern auf friedliche Art. Hintergedanke dieser Überlegungen der Römer war, dass dies zur Sicherung der Reichsgrenzen beitragen könnte. Damit gelangte ein Teil der Burgunder in die heutige Romandie, und mit ihnen auch ihre germanische Sprache.
Mit gelebter Mehrsprachigkeit war es allerdings nicht allzu weit her, denn die Burgunder übernahmen rasch die Sprache der römischen Bevölkerung.
Nach dem Zerfall des Römischen Reichs -- vermutlich vom Ende des 6. bis zum 8. Jahrhundert -- wanderten von Norden her alemannische Siedler ein, und brachten, wie zuvor die Burgunder in der Romandie, ihre germanische Sprache mit. Die Entstehung der Deutschschweiz erfolgte friedlich, denn die Alemannen liessen sich meist in unbewohnten oder von der romanischen Bevölkerung verlassenen Gegenden nieder. Aber anders als die Burgunder hielten sie an ihrer Sprache fest und liessen sich nicht romanisieren. Das östliche Mittelland wurde germanisiert – oder vielmehr alemannisiert. Daraus lässt sich folgendes provokantes Fazit ziehen:
"Die deutsch-welsche (romanische) Sprachgrenze ist ein Produkt unterschiedlicher Migrationsprozesse. Eine deutsche Schweiz gibt es nur, weil ein Teil der germanischen Immigranten, die in der Völkerwanderungszeit kamen, sich nicht assimilieren wollten." (vgl. Haas, in Schläpfer & Bickel, 2000:44-45; 66 ff.)
Die Alemannen sahen im Erlernen von Latein nun offenbar keinen Mehrwert mehr.
Zur (offiziellen) Mehrsprachigkeit in der Schweiz gehören neben Deutsch und Französisch bekanntlich auch Italienisch und Rätoromanisch. Doch mittlerweile sprechen mehr Menschen in der Schweiz Portugiesisch als Rätoromanisch. Dass Sprachenvielfalt bzw. Plurilingualismus durchaus problematisch sein können, wird insbesondere in der Schweiz, die häufig als Prototyp gelebter europäischer Mehrsprachigkeit und somit als Vorbild gesehen wird, deutlich. Das übergeordnete, kommunikative Postulat der «Ressource Mehrsprachigkeit» wird nicht von jedem Schweizer mitgetragen, und nicht jeder Deutschschweizer oder Romand sieht Italienisch als Teil der gesamtschweizerischen Identität. Mitunter wird den Proponenten der Schweizer Mehrsprachigkeit unterstellt, der praktizierte, minimalistische Sprachenpluralismus führe zu einem «a little bit of everything, but nothing right». Dazu soll an anderer Stelle ausführlicher eingegangen werden (English Only). Was Rumantsch Grischun anbelangt, so behaupten nicht wenige, zumindest hinter vorgehaltener Hand, dass diese Varietät ohnehin dem Sprachtod geweiht sei.
Die Schweiz ist kein Einzelbeispiel von Mehrsprachigkeit und taugt auch nicht als melting pot, oder als pot that would not melt, sondern vielmehr als pragmatisches Exempel sprachlicher Minderheiten im Lichte globalisierender Entwicklungen, in welcher Englisch vielfach als Bedrohung eben dieser Mehrsprachigkeit (insbesondere für Italienisch und Romanisch -- Rumantsch Grischun) wahrgenommen wird. Wie mehrsprachig sind die Schweizer nun wirklich? Dazu hält Haas (2000) fest:
"Schweizerinnen und Schweizer haben den Ruf, sprachgewandt zu sein. Tatsächlich spricht jeder Schweizer bzw. Schweizerin im Schnitt zwei Fremdsprachen. Doch so etwas wie 'Sprachbegabung' existiert nicht. Alle können eine Sprache lernen. Die Schweizer lernen sie, weil sie müssen." (vgl. Haas 2000: 210)
Dahinter steht die Überlegung, neben Italienisch in der Schweiz auch die Vermittlung der vierten Schweizer Landessprache, Rätoromanisch, zu verankern. Im Vordergrund soll der kommunikative Nutzen und nicht grammatische Perfektion stehen. Ein differenzierteres bzw. kritischeres Bild zum Befund der Schweizer Mehrsprachigkeit zeichnet Zehender (2017) wenn er festhält, dass vier Sprachen, vier Kulturen, ein Bund gleichberechtigter Staaten [sic] (die Schweiz) ein löcheriges Mäntelchen darstellen. Als Beispiel führt er dazu den Deutschschweizer Kanton Thurgau an…
"[…] wo Französisch «bloss eine lästige Pflicht wie der Nothelferkurs für den Lernfahrausweis ist» … Sie (die Thurgauer – sic!) wollen nichts mehr wissen von Frühfranzösisch: Der Thurgauer Grosse Rat hat entschieden, dass die französische Sprache den Thurgauern Kindern erst in der Oberstufe zugemutet werden kann. Stattdessen wird in der Primarschule Frühenglisch gelernt." (Zehender, 2017:1)
Eine ähnliche Situation trifft im Übrigen auch auf die Kantone St. Gallen und Zürich zu -- beide Vorreiter im Bereich Early English. Dieses Dilemma zeigt sich besonders in Wirtschaftsbereich der Telekommunikation:
"Dass die Swisscom einen englischen Namen trägt, zeigt schon äusserlich, wie sehr sie der Landesintegration und den Landessprachen den Rücken gekehrt hat." (Zehender, 2017:2)
In diesem Zusammenhang wird häufig die schleichende Anglisierung der Schweiz auf Kosten der «Kultursprache Französisch» beklagt.
Ist ja auch logisch. Die Zukunft liegt nun mal nicht in Milch, Lait, Latte, sondern in Computer, Handy, Internet. Mehr als 42,6% der Schweizer Bevölkerung über 15 Jahre sprechen zwar regelmässig mehr als eine Sprache – immer häufiger ist das aber Englisch. (Zehender, 2017:2)
Zehender konstatiert schliesslich, dass die Schweiz …
"[…] heute kulturell stärker mit den gleichsprachigen Nachbarländern verbunden ist als mit den anderssprachigen Landesteilen." (Zehender, 2017:2)
Koydl (2014) zeichnet ein noch düstereres Szenario. Er macht dafür die Schulreformer und Politiker der Deutschschweiz verantwortlich:
"Vor Kurzem hat das Parlament des Kantons Schaffhausen beschlossen, in Grundschulen nur noch eine Fremdsprache zu unterrichten. Heute sind es zwei, Englisch und Französisch, doch nach dem Stand der Dinge wird Französisch wegfallen, da Englisch als wichtiger für den internationalen Diskurs erachtet wird." (Koydl, 2014:1)
Bildungspolitisch hat dies in sämtlichen Kantonen der Schweiz, insbesondere aber im offiziell dreisprachigen Graubünden, zu einem kontroversen Diskurs geführt. Dies gipfelte in Volksinitiativen zur Beschränkung auf eine Fremdsprache in der Primarschule bzw. in der Argumentation, dass viele Kinder mit zwei (Fremd-)Sprachen überfordert seien. Damit untrennbar verbunden ist naturgemäss die Frage, welche Fremdsprache in der Primarschule zuerst unterrichtet werden soll. Die Bevölkerung des Kantons Graubünden entschied im Jahr 2004 (, dass dies eine Landessprache (Italienisch oder Romanisch) sein müsse, vor Englisch, das dann ohnehin problemlos in der Oberstufe gelernt werden könne (vgl. https://gr-d.lehrplan.ch/index.php?code=e%7C1%7C2).
Damit wird suggeriert, bei Englisch handle es sich um eine «leichte» Fremdsprache und junge Lerner wären ja im alltäglichen Gebrauch ständig mit Englisch konfrontiert. Noch haben nicht alle Schweizer Kantone das Harmos-Konkordat mit zwei Fremdsprachen in der Primarschule umgesetzt. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass das Thema Mehrsprachigkeit in der Schweiz mit ihrem föderalistisch ausgelegten Flickenteppich (noch) nicht jenem Aspekt der einigenden Eidgenossenschaft -- so wie es im Verfassungsrang steht -- genüge tut.Auch wenn das Thema Mehrsprachigkeit in der Schweiz politisch und emotional stark aufgeladen ist, scheinen folgende drei Szenarien als unwahrscheinlich. Einerseits die Rückkehr der Schweiz zur (politisch verordneten) Monolingualität und Französisch als erste und einzige Fremdsprache an den Schulen der Deutschschweiz andererseits. Schliesslich ist auch der Kompromiss einer «inoffiziellen fünften Landessprache», nämlich Englisch als einigende Lingua Franca in der mehrsprachigen Schweiz gleichermassen schwer vorstellbar.
3. Mehrsprachigkeit in Österreich
Obwohl Österreich geographisch wie die Schweiz zu Mitteleuropa gehört, kann nicht behauptet werden, dass das Land kulturell eng mit seinen Nachbarstaaten verbunden ist. Dabei müsste die historische Entstehungsgeschichte Österreichs mit der Ausdehnung des einst so mächtigen Habsburgerreichs die entsprechenden Voraussetzungen und den Nährboden für Mehrsprachigkeit geschaffen haben. Doch davon ist heute wenig zu spüren. Im Gegenteil. Insbesondere die Bevölkerungsgruppen aus den ehemaligen Kronkolonien Mittel- und Südosteuropas konnten zur Mehrsprachigkeit Österreichs wenig beitragen, da ähnlich wie später bei der Gastarbeiterbewegung in den 1960er und 1970er Jahren, die Sprachen dieser Menschen als minderwertig betrachtet wurden. Die Migranten aus den ehemaligen jugoslawischen Staaten sind heute mehrheitlich gut integriert. Die Kinder dieser «Gastarbeiter» sind in Österreich geboren und verstehen sich als Österreicher. Die Muttersprache ist für sie Deutsch. Ähnliches gilt für die Flüchtlinge, die nach dem Balkankrieg zu Beginn der 1990er Jahre nach Österreich kamen. Ein unterschiedliches Bild vermitteln mitunter die Gastarbeiterkinder türkischer Herkunft. Die Assimilierung dieser Migranten in zweiter und dritter Generation verläuft holprig bzw. findet überhaupt nicht statt. Dies artikuliert sich etwa im Umstand, dass Volkschulkinder türkischer Herkunft in den Pausen oft nur Türkisch sprechen. Aus diesem Grund wurde 2011 auch die Initiative Türkisch als Muttersprache (Erstsprache/L1) an Gymnasien maturabel zu machen, von der österreichischen Bevölkerung nicht mitgetragen (vgl. Der Standard, 9. Juni, 2011); (https://www.derstandard.at/story/1304554024377/rassismus-der-sprache-oesterreich-tuerkisch-ist-keine-fremdsprache).
In vielen Ländern Europas sind die Sprachen der jeweiligen Nachbarländer zumindest Wahlfach für eine Zweitsprache (L2) im schulischen Kontext. Für Österreich würde diese Wahl primär Italienisch, Ungarisch, Slowenisch, Slowakisch, bzw. Tschechisch umfassen. Die schulische Realität sieht jedoch Englisch unangefochten als beliebteste und meistgewählte erste Fremdsprache. Dies war nicht immer so, denn noch vor nicht allzu langer Zeit hatte Französisch diese Position inne. Auch sah man -- zumindest für das klassische humanistische Gymnasium -- Latein als unabdingbare Voraussetzung (alt-)philologischer Bildung an. Mittlerweile hat Spanisch als zweite Fremdsprache (L3) Französisch als Fremdsprache verdrängt. Auch gibt es immer mehr Stimmen aus der Wirtschaft, die einen vertieften Unterricht von Englisch fordern. Auf Kosten anderer Fremdsprachen, versteht sich. Zur Initiative English Only, wie o. a., soll unter Punkt 4 detailliert eingegangen werden. Das Österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) setzt zum Thema sprachliche Bildung als übergreifendes Bildungsanliegen zwar zahlreiche Initiativen wie etwa Massahmen zur Förderung der Bildungssprache Deutsch, zur Leseförderung sowie zum Fremdsprachenlernen; Förderungen zum muttersprachlichen Unterricht und zum Minderheitenschulwesen findet man aber erst am Ende dieses Katalogs (vgl. https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulpraxis/ba/sprabi.html).
Darüber hinaus umfasst sprachliche Bildung das gesamte sprachliche Spektrum, also den Bereich der Erst-, Zweit-, Herkunfts- und Fremdsprachen sowie auch der Minderheitensprachen, für die es in Österreich aufgrund verfassungsrechtlicher Bestimmungen ein auf zweisprachiger Bildung basierendesMinderheitenschulwesen gibt.
Etwas vollmundig heisst es da über die österreichischen Volksgruppen und deren Bereicherung mit jahrhundertelanger Tradition:
"Das Schulsystem spielt dabei für eine kontinuierliche positive Entwicklung eine tragende Rolle. Auf Grundlage der Minderheitenschulgesetze werden neben Deutsch an zweisprachigen Schulen in Kärnten Slowenisch und im Burgenland (Burgenland-)Kroatisch sowie Ungarisch in annähernd gleichem Ausmass als Unterrichtssprache geführt" (vgl. https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulpraxis/ba/sprabi.html).
Ein genauerer Blick über die Landesgrenze nach Österreich zeigt ein verzerrtes Bild. Mehrsprachigkeit existiert in Österreich realpolitisch nicht; es ist gesellschaftlich nicht verankert. Die Einheitssprache ist Deutsch. Im Unterschied zur Schweiz lassen sich einige Aspekte der Mehrsprachigkeit ausmachen, dafür muss aber immer das Bezugsfeld Schule und Unterricht herangezogen werden. Mehrsprachigkeit im Unterricht an Österreichs Schulen unterliegt im Wesentlichen vier Grundkategorien:
Kategorie 1: Deutsch als gesetzlich vorgeschriebene Unterrichtssprache und zentrales Unterrichtsfach
Kategorie 2: Traditioneller Fremdsprachenunterricht
Kategorie 3: Sieben autochthone Minderheiten und ihre Sprachen
Kategorie 4: Sprachen der MigrantInnen (d.h. Sprachen der allochthonen Minderheiten in Österreich)
Deutsch ist im österreichischen Schulwesen naturgemäss omnipräsent. Einerseits als die gesetzlich vorgeschriebene Unterrichtssprache, aber auch als zentrales Unterrichtsfach per se. Ungeachtet der heterogenen Zusammensetzung in manchen Schulklassen wird die erstsprachliche Kompetenz des Deutschen als normativ gesehen, was im Deutschunterricht, aber auch in anderen Fächern für die mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler, insbesondere in Ballungszentren sowie den Landeshauptstädten problematisch ist und letztlich zu sogenannten «Brennpunktschulen» (Schulen für Kinder mit besonderem sozialpädagogischen Förderbedarf, mehrheitlich im städtischen Bereich, mit Migrationshintergrund) führt. Volksinitiativen wie Eine (Fremd-) Sprache eines Nachbarlandes zuerst (vergleichbar mit Schweizer Landessprachen) sind in Österreich unbekannt. Mehrsprachigkeit in Österreich beschränkt sich im Wesentlichen auf zwei Bundesländer (Kantone) – Kärnten und Burgenland. In Kärnten ist die Volksgruppe der (Kärntner) Slowenen als solche und damit Slowenisch offiziell als Minderheitensprache anerkannt. Dasselbe gilt für Kroatisch bzw. Ungarisch im östlichsten Bundesland Österreichs, dem Burgenland. Als unverbindliche Übung bzw. Freifach werden mitunter Schulversuche im Rahmen von alternativem muttersprachlichen Unterricht (zu Deutsch) in Türkisch, Bosnisch und Serbo-Kroatisch angeboten. De Cilia hält dazu fest:
"Gelegentlich wird versucht, Mehrsprachigkeit an Schulen in Kärnten und im Burgenland in den Unterricht einbeziehen und eine bilinguale Unterrichtsform zu erproben. […]
Oftmals jedoch wird das Angebot des muttersprachlichen Unterrichts im Rahmen der Unverbindlichen Übung als eine Unterstützung in der Entwicklung der Erstsprache angesehen. Doch führt weder die oftmals sehr geringe Wochenstundenanzahl noch die Abgrenzung des Erstsprachenunterrichts vom Regelunterricht zur Entfaltung der Sprachenvielfalt. "(De Cilia, 2009:15-18)
Ein Blick nach Vorarlberg, in jenes Bundesland, das der Schweiz nicht nur sprachlich, sondern auch ethno-geographisch am nächsten liegt, zeigt als einzigen Indikator für Mehrsprachigkeit die Schulstatistik der Vorarlberger Volksschulen (Primarschulen). Im Schuljahr 2017/18 hatten 32,5 % der Kinder eine nichtdeutsche Umgangssprache. Der österreichische Durchschnitt lag bei 30,8 %. Im Bezirk Dornbirn war der Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Umgangssprache im Schuljahr 2017/18 in Volksschulen mit 41 % am höchsten; gefolgt von dem Bezirk Bregenz mit 31 % und den Bezirken Feldkirch und Bludenz mit je 29 %. Ähnlich hoch waren auch die Anteile von Kindern mit nichtdeutscher Umgangssprache in den Vorarlberger Kindergärten im Kindergartenjahr 2018/19. Initiativen zur Förderung von Mehrsprachigkeit findet man im Vorarlberger Schulkontext nicht.