Reformation fördert die kritische Gesellschaft

Im Rahmen der Feierlichkeiten comander2023 wurde am letzten Wochenende im Churer Grossratssaal disputiert. Das Ergebnis: die Reformation hatte ihre Sonnen- und Schattenseiten. Curdin Mark, Präsident Reformierte Kirche Chur, wünscht sich wieder mehr mutige und kritische Menschen, wie Reformator Comander einer war.

Zusammenfassung erstellt von der Reformierten Kirche Chur

Veranstaltet wurde die Disputation gemeinsam von der Reformierten Kirche Chur und dem Institut für Kulturforschung Graubünden. Zum Schluss der zweitägigen Veranstaltung resultierten vom prominent besetzten Podium vier Erkenntnisse: die Reformation war der Beginn einer kritischen Gesellschaft (Historiker Florian Hitz, Institut für Kulturforschung Graubünden); Religion stiftet Identität (Historiker Randolph C. Head, Prof. University of California, Riverside); Dialog ist Ausdruck von Toleranz zwischen den Konfessionen (Historikerin Immacolata Saulle Hippenmeyer); die Kirche muss sich dauernd reformieren und weiterentwickeln (Theologin Rita Famos, Präsidentin Evangelisch- reformierte Kirche der Schweiz).

Reformation mit Mut zur Veränderung

Zum Start am Freitagnachmittag verlieh Cordula Seger, Leiterin Institut für Kulturforschung Graubünden, ihrem Wunsch Ausdruck, dass sich auch die Wissenschaft vermehrt wieder einer öffentlichen Debatte stellt, wie es mit dieser Disputation geschieht. Regierungspräsident Peter Peyer erinnerte an den Comander der Science Fiction-Serie Raumschiff Enterprise: dessen Motto "lebe lang und in Frieden" gelte in Anbetracht der globalen Krisen auch heute. Stadtpräsident Urs Marti erinnerte an den Mut zur Veränderung der Reformation durch Comander. Menschlichkeit, Verstand und Aufklärung seien auch aktuell in der Gesellschaft gefordert. Historiker Sebastian Brändli machte auf die Grenzen der Zürcher Reformation gerade im Hinblick auf die Frauen aufmerksam. Emanuele Fiume zeigte als Vertreter der Waldenser (protestantische Kirche in Italien und Teilen Südamerikas) auf, dass Graubünden das eigentliche Haus der italienischen Reformation gewesen ist.

11 Schlaglichter aus Graubünden

Es folgten 11 Schlaglichter zur Reformation aus den verschiedenen Regionen Graubündens. Soziologin Christina Caprez erinnerte an ihre Grossmutter, welche als "illegale" Pfarrerin in Furna wirkte. Historiker Daniele Papacella illustrierte, wie die Bibeln aus Poschiavo ins Veltlin geschmuggelt werden mussten. Romanist Chasper Pult stellte klar, dass die Alphabetisierung der romanischen Bevölkerung eine eigentliche Kulturrevolution dargestellt hat. Roland Just, ehemaliger reformierter Pfarrer aus Disentis, gab zu, dass 33 Jahre in der Cadi ein gewisses Mass an Frustrationstoleranz erfordert habe, die jedoch nicht mehr so gross sein müsse wie am Anfang. Wolfgang Schulz, Archivar im Kirchenvorstand der Gemeinde Val d'Alvra, folgerte zur fusionierten Kirchgemeinde: "Wer eintritt, sei willkommen. Wer geht, geht mit Gott". Historikerin Miriam Nicoli, thematisierte die bikonfessionellen

Familien im Misox des 18. Jahrhunderts mit den gemeinsamen kulturellen und beruflichen Werten, gemeinsamen politischen Interessen und einem christlichen Gewissen. Kunsthistoriker Leza Dosch bezeichnete die Platzierung der Churer Comanderkirche an der in den 50er Jahren neu gebauten Ringstrasse als klares Statement. Historiker Adrian Collenberg belegte das hundertjährige protestantische Kirchgemeindeleben unter bischöflicher Aufsicht im Domleschg und am Heinzenberg. Musikwissenschafterin Laura Decurtins erzählte davon, wie die romanische Gesangskultur in Zuoz die Ideen der Reformation im Engadin verbreiteten. Historiker Holger Finze-Michaelsen zeigte mit dem Pietismus in Graubünden, wie im Alltag der Glauben auch mit Auseinandersetzungen in der Synode gelebt wurde. Pfarrerin Ursina Hardegger berichtete aus dem Alltag in ihrer Gemeinde. Die Kirchgemeindeversammlungen vermitteln das Recht zur Teilnahme und der Umgang mit der Bibel erfolge sehr vielseitig und auch mit neuen Medien.

Comander als Vorbild

Historiker Jan-Andrea Bernhard, Titularprofessor an der Universität Zürich, vermittelte die fünf Faktoren, wieso "Vater Comander" Vorbild für Leben und Glauben war: dank einer bürgerlichen Familie die Möglichkeit zum Studium und Bekanntschaft mit Zwingli und Vadian; die Forderung an die Geistlichen so zu leben, wie sie predigten; der theologische Weg von den Thesen der Reformation bis zur Einbindung der Südtäler mit der Confessio Raetica; das Netzwerk und die Bescheidenheit Comanders; die Seelsorgertätigkeit als "Vater Comander" und die Gründung der Synode. Peter Opitz, Prof. em. am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte der Universität Zürich, bettete die Reformationen in Zürich und Graubünden in den gesamteuropäischen Kontext mit insgesamt 16 Disputationen ein. Die Disputationskultur habe einen Samen gesät, der nicht vollständig und perfekt gewesen sei. Die Argumentation und der Konsens seien aber wichtige Errungenschaften, welche durchaus auch heute bedeutend sind. Eva-Maria Faber, Prof. für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur, wünschte sich für beide Kirchen, die Chancen der Reformation zu nutzen Die Synoden müssen die unterschiedlichen Meinungen einer Disputation nutzen. Die Vielstimmigkeit der Reformation solle zu einem synodalen Konzert werden.

Kirche und Staat trennen

Glaubensfreiheit, Koexistenz sowie das Verhältnis von Kirche und Staat bildeten der Abschluss der Referate. Florian Hitz erinnerte daran, dass die Glaubensfreiheit zuerst eher durch Toleranz in der Familie entstand und dann ab 1550 zu einer Glaubensfreiheit der Gemeinden wurde. Die individuelle Glaubensfreiheit wurde erst ab 1570 möglich. Randolph C. Head meinte zur Koexistenz, dass es auch heute eine Herausforderung sei, wie man mit Andersdenkenden und anderen Praktiken umgehen soll. Das dazu nötige Lernen und Überdenken habe nicht im 17. Jahrhundert aufgehört. Immacolata Saulle Hippenmeyer wies darauf hin, dass die Kontrolle des kirchlichen Lebens in den Dörfern wohl nur in der Reformation der Drei Bünden gänzlich in den Händen der Kirchgemeinden lag. Rita Famos ging auf das Verhältnis von Kirche und Staat ein. Von der Trennung profitiere auch der Staat, denn die evangelische Kirche vermittle Werte, betreibe Seelsorge, fördere die Resilienz der Bevölkerung, sei eine partizipative Religionsgemeinschaft und berufe sich auf die menschliche Wirklichkeit als höchste Instanz. Die Politik rief sie dazu auf, der Versuchung zu widerstehen, die Religion durch sich selbst zu ersetzen.

Bilder Livia Mauerhofer/Suedostschweiz