Dies schrieb vor etwas über 30 Jahren nicht irgendein weltfremder, schwärmerischer Spracheiferer, sondern der renommierte Volks- und Namenkundler, Ordinarius der Universität Bern und Walser-Spezialist ("Walser Volkstum") Paul Zinsli (gest. 2001). Zinsli beklagt, dass in Graubünden nach der, wie er zugesteht, mit Recht erfolgten amtlichen Verbindlichkeit der romanischen und italienischen Gemeindenamen eine heranwachsende Generation in Deutschbünden, "unterstützt" von Zuzügern aus dem Unterland, "die die kulturellen Verhältnisse des Berglands weitgehend durch Gedrucktes kennengelernt haben", beginne, einen Teil ihres eigenen Namenerbes zu vergessen.
"Man spricht nun nicht mehr von Fellers, sondern von Falera, anstelle von Marmels heisst es nun Marmorera, von Schleins Tschlin, von Samaden Samedan, von Schuls Scuol, von Lenz Lantsch usw. Manch einer mag diese Lautungen gebrauchen, nicht weil er die eigenen vergessen hat, sondern weil sie für ihn gebildeter oder schöner klingen, bestenfalls weil er so den romanischen Landsleuten entgegenkommen will." Mit Recht gehe der Romane nach Cuera/Coira, spreche von Tavau (Davos), Tumein (Tamins) oder Tusaun (Thusis). Auf gleiche Weise dürfe aber der deutschsprechende Bündner "seine althergebrachten Muttersprachlautungen" brauchen und von Ems, Tiefenkastel, Sagens, Panix usw. sprechen. Zumal die meisten bündnerdeutschen Namen für rätoromanische Orte nicht neue Kanzleiformen, sondern in Jahrhunderten gewachsene Gebilde seien.
Ist es mit der eingangs gefeierten zähen Beständigkeit der Namen also doch nicht so weit her? Oder ist der eingedeutschte Teil doppelsprachiger Ortsnamen weniger robust als ihr romanisches Gegenstück? Nichts von alledem. Sprache ist eben Wandel, und als Wissenschaftler wird sich Zinsli sehr wohl bewusst gewesen sein, dass sprachpflegerisches Bemühen zwar lobenswert ist, der Sprachgebrauch sich letztlich aber wenig darum schert. Wie hätten wohl die Gründerväter des schweizerdeutschen Wörterbuchs (Idiotikon) auf das künstliche, Wort für Wort aus der Schriftsprache übersetzte Konstrukt reagiert, das Werbung und elektronische Medien heutzutage als Mundart verkaufen?
Motivation oder Gleichgültigkeit einer Sprachgemeinschaft entscheiden über Erfolg oder Nichterfolg solcher Anstrengungen – das gilt für das gefährdete Rätoromanisch ebenso wie für die in die Vergessenheit abdriftenden eingedeutschten Ortsnamen. Zinslis Bedenken kann man teilen oder eben nicht. Vorbehaltlos zustimmen kann man ihm jedoch, wenn er mit Blick auf bündnerische Namen die Inkompetenz von Radio- und Fernsehmoderatoren beklagt, "die sich über fremdländische Namen nicht genug erkundigen können", jedoch von Cazìs, Bonàduz, Walèndas (Valendas), Disèntis, Awers (Avers), Wals (Vals) etc. sprechen. Welche Wertschätzung auch immer man ihnen entgegenbringt – mindestens den Respekt der richtigen Aussprache haben Namen jedweder Art stets verdient.
Anmerkungen
1 RNB 1 (1979, 557, 559), RNB 2 (1964, 905); Schorta, A. (1988, 58, 59).
2 Liver (2012).
3 Einen Sprachanteil von 0.7 Prozent vermeldete die "Tagesschau" des Schweizer Fernsehens SRF am 26. September 2019 für das Räto-, genauer das Bündnerromanische.
4 Id. (1881 ff., 3,1570).
5 ONB I/3 (2008, 202).
6 Udolph/Fitzek (2005, 19).
7 Fetzer (2016, 130).
8 Stricker, H. (1980, 69).
9 Auch Goethe meint in Faust I, Szene in Marthens Garten, mit "Name" nicht den Eigennamen, sondern das Nomen, das Wort.
10 Zu einer auf der unterschiedlichen Entstehung solcher Namen basierenden Typologie siehe GHH (2019).
11 Orte mit amtlichen Doppelnamen sind in der Schweiz nicht sehr häufig. In Graubünden gehören nebst den genannten Disentis/Mustér und Domat/Ems noch Bergün/Bravuogn, Breil/Brigels, Celerina/Schlarigna, Feldis/Veulden, Lantsch/Lenz, Lenzerheide/Lai, Sils/Segl Baselgia bzw. Segl Maria, Tumegls/Tomils, Vaz/Obervaz und Waltensburg/Vuorz dazu. Vgl. GHH (2019).
12 Bis 1943 offiziell Neukirch bei Ilanz, gehört seit 1. Januar 2016 zur Gemeinde Obersaxen Mundaun.
13 Bis 1902 offiziell Stalla, gehört seit 1. Januar 2016 zur Gemeinde Surses.
14 Vgl. Sererhard, N. (1742, 13): "Flimss [...] (auf rumansch Flem) [...] führt seinen Nammen von den schönen Wasserquellen, die im Fleken hervorquellen, […] dann Flümss heisst in Rhätischer Sprach so viel als Flumina, Wasserflüsse."
15 Schmid, Hch. (1951, bes. 26-51, mit einer Fülle von Beispielen).
16 Vgl. WeNB 8 (2017, 70, Abschn. 2.8.3 "Deutsche Wortbildungselemente an romanischen Namen").
17 Masüger, P. (2008, 30, 31)
18 Die Verschlusslaute t, p, k werden je nach Stellung im Wort zu entsprechenden Affrikaten oder Reibelauten z/ss, pf/ff und ck/ch verschoben.
19 Tendenz, bei vordeutschen Wörtern den Akzent wie in der eigenen Sprache auf die erste Wortsilbe zu verlegen.
20 Vgl. LSG (2005, 247, 248), r. Cuera oder Cuira, it. Coira, frz. Coire.
21 Vgl. LSG (2005, 224). RNB 1 (1939, 126) verzeichnet r. Cazas noch als Hauptform.
22 Sonderegger (1979, 235).
23 Chur (normalschweizerdeutsch mit ch-, im Churer Dialekt, jedoch nicht allgemein bündnerisch! mit kh- ausgesprochen) Cazis (Cazis, nicht Cazis, wie oft von Kantonsfremden zu hören ist),
urkundlich 940 Chazzes, spätahd. Chaces, jünger Chatz, vgl. Sonderegger (1979, 235).
24 Sonderegger (1979, 235).
25 Vgl. Hitz, F. (2012).
26 Vgl. LSG (2005, 669), seit 2016 Teil der Gemeinde Obersaxen Mundaun.
27 Masüger, P. (2008, 78).
28 Masüger, P. (2008, 202, 204).
29 Vgl. RNB 2 (1964, 281).
30 LSG (2005, 888); RNB 2 (1964, 95); Schorta (1988, 144).
31 Masüger (1991, 33).
32 Sererhard, N. (1742, 196).
33 Stricker (2010, XI).
34 Vgl. GHH (2019).
35 LSG (2005, 861); Schorta, A. (1988, 137); RNB 2 (1964, 43).
36 LSG (2005, 163); Schorta, A. (1988, 67, 135); RNB (1964, 43, 172, 173).
37 Zinsli (1946, 31, 246).
38 Zinsli (1998, 137).
39 RN 2 (1964, 286).
40 Zinsli (1987, S. 21).
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